Netanjahus No-go-Strategie

Das neuerliche heftige Aufflackern des israelisch-palästinensischen Dauerkonflikts hatte wesentlich aktuelle innenpolitische Ursachen. Diese stellen sich vor dem Hintergrund einer teils neuen Lage von Diplomatie und Bündnis für Israel dar. Seit mehr als zwei Jahren wird das Land zudem von einer Regierungskrise bestimmt. Die USA als politisch-wirtschaftlich-militärischer Hauptverbündeter Israels stellen sich unter Präsident Biden nicht mehr wie noch zu Zeiten von Donald Trumps Chaos-Außenpolitik bedingungslos auf die Seite Israels. Die USA übten in der zweiten Woche der Auseinandersetzungen massiven Druck auf Israel aus, das Schießen und Bomben zu beenden. Der ägyptische Präsident Al-Sisi nutzte bestehende Kontakte seiner Vermittler zur Hamas, diese zur Zustimmung zu einer Waffenruhe zu bewegen. Zur Verschiebung der Kräfteverhältnisse trägt auch bei, dass es offenbar auf diplomatischer Ebene zu ersten Gesprächen zwischen den Erzfeinden Iran, mutmaßlicher Hisbollah- und Hamas-Unterstützer, und Saudi-Arabien, das sich Israel annähert, gekommen ist. Die Türkei, die sich hinter Hamas stellt, zieht in ihrem Regionalmacht-Streben mehr oder weniger Nutzen aus dem Konflikt zwischen Hamas und Israel im Gazastreifen. Präsident Erdogan scheint jedes Mittel recht, im regionalen Tauziehen Israels Machtposition zu schwächen. Die gemäßigte Fatah von Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas verzeichnet einen lähmenden Machtverlust. Seit 15 Jahren verspricht er, Wahlen im Westjordanland abzuhalten, die er immer wieder hinausschob, aktuell aus Furcht, sie zugunsten eines wachsenden Einflusses von Hamas zu verlieren. Ein provoziertes militärisches Vorgehen gegen die palästinensische Seite konnte Netanjahu nur wenige Tage nach Beginn von Koalitionssondierungen für eine Regierung ohne ihn sogar willkommen gewesen sein, um seine angekratzte Position als „starker Mann“ wieder mehr zu festigen. Nach Trumps verheerendem Nahost-Plan aus dem Jahr 2020 einseitig zu Israels Gunsten, den die palästinensische Seite rundum nur einhellig ablehnen konnte, war es nur eine Frage der Zeit, bis die Gärung bei entsprechendem Anlass wieder hochschäumen würde.

 

Die Situation in Ost-Jerusalem und der Westbank

Man nehme nur einmal die Lage in Ost-Jerusalem oder in Palästinenser-Städten wie Hebron südlich von Jerusalem in der von Israel besetzt gehaltenen Westbank, wo es vor Ort gut 800 jüdische Siedler_innen gibt. Mitten durch Ost-Jerusalem verläuft eine hässliche 7 Meter hohe Betonmauer; der Ort ist Sitz des muslimischen Tempelbergs mit Felsendom und Al-Aksa-Moschee sowie der jüdischen Klagemauer. Unmittelbarer könnten die religiösen Gegensätze nicht aufeinanderprallen. Ost-Jerusalem kann mit seinen 250.000 palästinensischen Bewohner_innen nicht den jüdischen Israelis allein gehören, der Stadtteil müsste endlich offene Stadt werden unter UN-Protektion. Man baute provokativ eine moderne Straßenbahn für die israelischen Siedler und Bewohner. So kommen nicht nur bis zu 20.000 Besucher in den Stadtteil pro Monat wie früher, sondern inzwischen täglich. In Ost-Jerusalem liegt auch das palästinensische Flüchtlingslager Shu’fat, wo tausende Gestrandete und Vertriebene in dürftigen Unterkünften hausen, Hunger und Not herrschen. Aus „Sicherheitsgründen“ wird palästinensisches Terrain geräumt und den Besitzern der Zugang verwehrt, wenn sie dort Felder anlegen wollen. Der Müll wird in den Palästinenservierteln von der israelischen Stadtverwaltung nicht mehr abtransportiert. In Hebron ist der Gegensatz Siedler – Einheimische besonders drastisch zu spüren. Palästinensische Hausbesitzer decken ihre Balkone durch Gitterkäfige ab, um sich gegen Steinwürfe israelischer Militant-Religiöser zu schützen. Der arabische Basar und die zentralen Einkaufsstraßen sind wegen „Anschlags-gefahr“ geschlossen, was vor allem die vielen Kleinhändler empfindlich trifft und verbittert. Schikanen und Behinderung durch israelische Polizei und Militär und Willkür-Kontrollen sind alltäglich. Das Westjordanland ist ein in verschiedene Kontrollzonen eingeteilter Flickenteppich, was bei Unruhen Israels Armee schnell Grund zum Eingreifen gibt und die palästinensische Bevölkerung voneinander separiert.

 

Der Gazastreifen – ein Gefängnis

Der autonome Gaza-Streifen ist zwar rein palästinensisch kontrolliert, aber dort leben auf einer Fläche von ca. 9 Kilometern durchschnittlicher Breite und etwa 40 km Länge über 2 Millionen Menschen, darunter viele Geflüchtete und Vertriebene, zusammengepfercht wie in einem riesigen Freiluft-Gefängnis, von zwei Land-Seiten kontrolliert durch israelische Armee-Checkpoints ohne sicheren Korridor zur Westbank und von Seeseite blockiert durch Israels Marine. Soziale, medizinische und hygienische Not ist durch Enge, Wohnraum- und Wassermangel programmiert, vor allem, wenn wie jetzt Häuser wieder gezielt durch Bombardements und Granat-Beschuss durch die israelische Armee systematisch zerstört wurden. An Gaza und Westbank wird deutlich, was den sozialen und ideologischen Nährboden für den schwelenden Konflikt abgibt. Faktisch lebt die palästinensische Bevölkerung unter mehreren zersplitternden Realitäten: der im Gaza, in Ost-Jerusalem, in der Westbank und im Jordantal, wo es keine gemischte israelisch-palästinensische, sondern nur eine israelische Verwaltung gibt. Ägypten setzte nach Verkünden der Waffenruhe einen ersten Konvoi von 130 Lastwagen in Marsch mit medizinischen Hilfs- und anderen Versorgungsgütern für den Gaza. Die USA sicherten ebenfalls humanitäre Hilfe für die Bevölkerung im Gazastreifen zu.

 

Innenpolitische Lage und schwierige Regierungsbildung

Im Kernland ist die politische Situation seit längerem heillos festgefahren. Nach der vierten Parlamentswahl binnen zwei Jahren am 23. März dieses Jahres, hatte erneut kein Block eine klare Regierungsmehrheit erringen können. Es gilt eine 3,5 Prozenthürde für den Einzug in den Knesset, Israels Parlament. Premier Benjamin Netanjahu, selbst korruptionsbelastet, steht erstmals seit 2009 vor der Ablösung. Er hatte auch schon von 1996 bis 1999 das Amt des Premiers inne. Es gelang ihm nicht, trotz seines eher überraschenden Wahlsiegs mit 30 errungenen Sitzen bei einigen Sitzen Einbuße für den Likud, der wohl eher dem Erfolg des Landes bei der Corona-Bekämpfung geschuldet sein dürfte, eine Mehrheit von 61 der 120 Parlaments-Sitze für ein Regierungsbündnis zusammenzubekommen. Staatspräsident Reuven Rivlin beauftragte daraufhin am 5. Mai den Oppositionsführer der mit 17 Mandaten zweitstärksten Zukunftspartei Jesch Atid des liberalen Politikers Jair Lapid mit einer Regierungsneubildung, deren Frist für eine Einigung am Mittwoch (2. Juni) um Mitternacht ablief. Jesch Atid ist als stärkste Gruppierung aus dem Blau-Weiß-Zweckbündnis Kachol Lavan der Wahl von 2020 übrig geblieben, das dann bis zum Krach mit dem Likud koalierte. Das Rumpfbündnis Kachol Lavan von Benny Gantz ist unter diesem Namen wieder zur Wahl angetreten und konnte 8 Parlamentssitze erringen. Der TV-Journalist Lapid zimmerte ein möglichst breites nationales Bündnis von rechten, liberalen und linken Juden mit arabisch-islamischen Vertretern. Diesem gehören neben Kachol Lavan auch die insgesamt geschwächte Linke aus Awoda (zionistische Arbeitspartei) und Meretz („Tatkraft“) mit zusammen 13 Sitzen sowie die religiös-rechtsnationalistische Jamina-Partei (7 Sitze) des früheren Verteidigungsministers unter Netanjahu und Befürworters der Siedlungsbewegung, Naftali Bennett, an, zweifellos ein politischer Spagat. Nicht beteiligt sind die Jüdisch-Orthodoxen, zionistischen Ultra-Rechten und die extreme Siedlerpartei, also das ganz rechte Spektrum. Es passt zur Umbruchsituation, dass gerade der 60-jährige Politiker Itzchak Herzog als Mitte-Links-Kandidat vom israelischen Parlament mit 87 zu 26 Stimmen zum neuen Staatspräsidenten gewählt wurde, der am 9. Juli sein Amt antreten soll. Der Sohn des früheren Staatspräsidenten, Chaim Herzog, führte ab 2013 einige Jahre die Arbeitspartei, die seit Januar 2021 mit der 55-jährigen Journalistin Merav Michaeli eine weibliche Vorsitzende hat.

Ergänzt wird das Bündnis durch die konservativ-säkulare Neue Hoffnung-Partei von Gideon Saar mit 6 Sitzen und die rechtsnationale Partei Unser Heim Israel (Jisra’el Beitenu) von Avigdor Liebermann, die 7 Sitze mitbringt und sich auf Wladimir Jabotinsky beruft. Der einstige Gründer der militanten revisionistisch-zionistischen Bewegung, der ursprünglich auch die Cherut von Menachim Begin und der Likud entstammen, prägte den Spruch von der „Eisernen Mauer aus jüdischen Bajonetten“. Rechnerisch kommt das fragile Bündnis so auf 62 Stimmen. Der kleinen Ra’am-Partei (Vereinigte Arabische Liste) von Mansur Abbas mit lediglich 4 Sitzen fällt die Rolle eines Züngleins an der Waage zu. Sie hatte zunächst zugesichert, eine Minderheitsregierung unter Lapid/Bennett, die als Premier und im Außenamt nach zwei Jahren rotieren wollen, ohne eigene Beteiligung zu tolerieren, hat sich dann aber entschlossen, die Koalition Lapids aktiv mitzutragen. Ra’am verspricht sich davon jenseits ideologischer Identität mehr pragmatischen Spielraum z. B. durch mehr Geld für Bildung, die Schaffung von Arbeitsplätzen, infrastrukturelle und sicherheitspolizeiliche Verbesserungen für die wachsende Gemeinde von mehr als 20 Prozent israelischer Staatsbürger, die palästinensische Araber_innen sind und ihr Recht auf mehr politische Beteiligung einfordern. Seit Ende der 1980er Jahre bilden sich in Israel selbstständige arabische Parteien. Zwei offene Fragen stellen sich allerdings, nämlich wie es die israelische Bevölkerung aufnimmt, wenn künftig das Wohl und Wehe von Israels Regierung von einer arabisch geführten Partei abhängt; zum Zweiten ist die Rolle der beiden israelischen Linksparteien unklar, außer dafür zu sorgen, dass der Rechtsdrall des neuen Bündnisses nicht zu drastisch ins Gewicht fällt. Im Bündnis der Acht liegen die einzelnen Programmatiken etwa zu Wirtschaft, Bildung und Verteidigung weit auseinander. Das kann nur bedeuten, dass grundsätzliche Differenzen in der Siedlungs- und Besatzungspolitik sowie weitere strittige Punkte in einer Koalitionsvereinbarung weitgehend ausgespart bleiben. So wollen etwa Lapid, Bennett und Liebermann in einer starken Dreiergruppe den Status quo in der besetzten Westbank nicht antasten, während die beiden sozialdemo-kratischen Parteien Meretz und Awoda den völligen bzw. teilweisen Rückzug Israels daraus um bis zu 60 Prozent fordern. Die rechte Jamina Bennetts sicherte sich außerdem das Innenressort.

Das zusammen genommen beinhaltet brisanten potenziellen Sprengstoff und trägt bereits den Keim des Scheiterns in sich. Das einzige, was diese ungewisse Mehrparteien-Koalition zu einen scheint, ist das Ziel, den Konkurrenten Netanjahu loszuwerden. Bennett als bei diesem Machtkampf treibende Kraft, war einst dessen rechte Hand und Netanjahu sein Mentor. Er kam als Unternehmer eines Internet-Start-ups, das er verkaufte, zu beträchtlichem Millionen-Vermögen. Der Hardliner in Siedlungsfragen (er will die „C-Zone“, d. h. 60 % der Westbank, annektieren) und ehemalige Offizier eines Spezialkommandos (Wahlspruch: Terroristen töten, nicht freilassen) war Netanjahus Stabschef und gehörte in fünf verschiedenen Ministerämtern dessen Kabinetten an, bis sich die beiden zerstritten und der 49-Jährige seither eigene Wege geht. Bennett, der der kommende Mann in der israelischen Politik sein könnte, vertritt gegenüber dem Iran eine harte unnachgiebige Linie. Zunächst muss Lapid nun binnen sieben Tagen sein Kabinett bilden und muss dann die neue Regierung im Parlament bestätigt und vereidigt werden.

Netanjahu ist aber noch nicht völlig aus dem Spiel. Er wird alles daran setzen, die neue Regierung mit nur einer hauchdünnen Mehrheit von Beginn an zu untergraben und twitterte am Donnerstag (3. Juni) nach Art von Donald Trump einen entsprechenden Aufruf zum Widerstand an Abgeordnete der Koalition. Er schrieb wörtlich: „Jeder Knesset-Abgeordnete, der mit den rechten Stimmen gewählt wurde, muss sich der gefährlichen linken Regierung widersetzen … Bennett hat den Negev (die Wüste im Süden Israels, wo viele arabische Beduinen leben, d. Verf.) an Ra’am verkauft“. Der Versuch, den Parlamentspräsidenten Jariv Levin vorzeitig abzulösen, um Bestrebungen des Lagers um Netanjahu, das geplante Bündnis noch zu verhindern, entgegenzuwirken, schlug fehl, weil sich ein unsicheres Mitglied der sieben Jamina-Abgeordneten dagegen aussprach. Die erste Bewährungsprobe quasi schon misslungen. Für diesen Donnerstag (10.6.), dem Tag der vorgesehenen Vereidigung einer neuen Regierung, planen nationalistische Israelis in der Jerusalemer Altstadt einen Flaggenmarsch – auch durch das muslimische Viertel. Eine Provokation. Abdullah Siam, Vizegouverneur Jerusalems von der palästinensischen Autonomiebehörde, warnte vor einer „Explosion“ in der Stadt. Ram Ben Barak von der Zukunftspartei kommentierte, der Marsch wolle Spannungen entfachen und so die Vereidigung der neuen Regierung vereiteln. Das Szenario erinnert gefährlich an den 6. Januar 2021, als in Washington/USA ein vom abgewählten Ex-Präsidenten Trump angestachelter rechter Mob sich anschickte, mit Gewalt das Kapitol zu erstürmen und zu besetzen. Es bleibt eine schmale Gratwanderung mit offensichtlich unwägbaren Momenten und Schwachstellen und dürfte kaum verwundern, wenn es schon binnen eines Jahres oder noch kürzer, wie nicht wenige im Land befürchten, zu einem nächsten Koalitionsbruch und zum fünften Mal zu neuen Wahlen käme.

 

Was den neuen Waffengang auslöste

Es war neben einem Streit um den Zugang zum Platz an der Al-Aksa-Moschee, drittwichtigstes islamisches Heiligtum nach Mekka und Medina, zum Ende des Fasten-monats Ramadan, die Ankündigung der Enteignung und Räumung von arabischen Häusern und Familien in Ost-Jerusalem, die eine wütende palästinensische Reaktion nach sich zogen. Das wiederum lieferte der Hamas den Anlass, neue Raketenangriffe auf israelisches Gebiet und die Städte Ashkelon, Tel Aviv-Jaffa und ihre Umgebung zu starten. Die Lunte war damit erneut entfacht an ein schwelendes Pulverfass mit rasch eskalierenden Schritten und explosiven Gewalt-Eruptionen Marke Goliath gegen David. Bei Straßenkämpfen in Ost-Jerusalem und anderen Städten sah man junge Palästinenser die Steinschleudern gegen martialische Phalanxe der israelischen Armee und Polizei schwingen. Das israelische Militär mobilisierte seit Beginn der Auseinandersetzungen am 10. Mai rund 9.000 Reservist_innen und verlegte schwere Einheiten von Panzerhaubitzen an die Grenze zum Gazastreifen, die aus ihren Stellungen Ziele im Gaza beschossen, was einer zusätzlichen Provokation und Demütigung gleichkam. Als Vergeltung für Hamas-Angriffe mit selbst entwickelten Boden-Boden-Raketen der Bauart „Kassam“ in massierten Salven auf Ziele in Israel, bombardierte die israelische Luftwaffe wie sie sagte logistische Ziele der Hamas und machte Jagd auf Hamas-Funktionäre und -Kommandeure. Die Mär von der „chirurgischen“ Kriegsführung mit den unvermeidlichen zivilen „Kollateralschäden“

 

Die Hamas rüstet militärisch auf

Die Kassam-Raketen der Baureihen 1 bis 4 sind seit Anfang der 2000er Jahre im Einsatz und solche der mobilen Kurzstreckenart von etwa 6 bis 24 km Reichweite. Sie haben eine Länge von 120 bis 260 cm bei einem Durchmesser von 11,5 bis 17 cm und transportieren 5 bis 15 kg Sprengstoff ins Ziel. Etwas salopp ausgedrückt sind es bessere „Feuerwerks“-Raketen mit gehärteter Stahlummantelung und Feststoff-Antrieb, fliegenden Granaten gleich, dabei relativ zielungenau, die aber aufgrund ihrer starken Sprengladungen bei Einschlägen dennoch beträchtlichen Schaden anrichten können. Vor allem verbreiten sie unter der israelischen Zivilbevölkerung Angst und Schrecken, die zu Tausenden in Luftschutzbunkern Schutz suchte. Zu über 90 Prozent fängt das israelische Anti-Raketen-Raketen-System „Iron Dome“ (eiserne Kuppel) die Kassam-Flugkörper für gewöhnlich ab. Diesmal sollen es nahezu 4.000 Stück gewesen sein, damit war der Verteidigungsschirm gegen ganze Pulks anfliegender Raketen überlastet. Dagegen geht Israels Armee operativ weit zielgenauer und massiver vor wie bei dem Haus des Hamas-Politbüro-Chefs Al-Sinwar und seines Bruders, das am Samstag (16. Mai) beschossen und dem Erdboden gleichgemacht wurde, ohne dass sich einer von beiden darin aufhielt. Trotzdem wurde in Gaza-Stadt ein Presse-Hochhaus getroffen, in dem sich die Büros mehrerer westlicher Medienagenturen wie Associated Press und des arabischen Senders Al-Dschasira sowie private Wohnungen befanden. Das vielstöckige Gebäude erhielt einen zentralen Treffer und stürzte in wenigen Sekunden komplett ein. Israel nannte als Grund auch darin untergebrachte Hamas-Büros und kündigte den verheerenden Luftschlag zuvor an. Die Verwüstungen, die israelische Bombardements durch Flugzeuge und Panzer-Beschuss an zahlreichen zivilen Gebäuden im Gaza anrichteten, stehen dabei in keinem Verhältnis zu den relativ geringen Zerstörungen auf israelischem Gebiet durch Einschläge von Hamas-Raketen. Das zeigt auch ein Vergleich der Opferzahlen auf beiden Seiten: Etwa 250 Tote und 1.910 teils schwer Verletzte, darunter viele Frauen und Kinder, auf palästinensischer, 12 Tote und ca. 300 Verletzte auf israelischer Seite. Von einer erneuten Invasion im Gaza mit Bodentruppen durch die israelische Armee wie schon 2008/09 und 2014 sah Israel ab und setzte auf seine überlegene Luftwaffe, der palästinensische Kräfte an Abwehr bisher nichts entgegen-zusetzen haben.

 

USA zurückhaltend

US-Präsident Biden und das Weiße Haus hielten sich zunächst noch zurück und sondierten die Lage. In der zweiten Woche erfolgte die US-Initiative für eine Waffenruhe, Biden telefonierte mehrmals mit Netanjahu. US-Außenminister Blinken reiste zu Krisen-Gesprächen nach Nahost, um die Waffenruhe zu festigen. Die Biden-Administration favorisiert ähnlich wie die Europäische Union eine Zwei-Staaten-Lösung, die aber nicht mal mehr von den tief gespaltenen Palästinensern selbst angestrebt und von den radikalen Kräften als „Totgeburt“ angesehen wird, sowie die Aufgabe der aggressiven Siedlungspolitik Israels. Andere wie UN-Generalsekretär Guterres zeigten sich über die neuerliche Ausweitung des Konflikts tief erschüttert, der beide Seiten zur Besonnenheit mahnte und zu Verhandlungen aufrief, nachdem sich bereits zuvor der UN-Sicherheitsrat zu mehreren Sondersitzungen dazu getroffen hatte. UN-Menschenrechts-Experten warfen beiden Seiten kriegsrechtsverletzende, rücksichtslose Handlungen vor. Der Präsident des Nationalrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, verurteilte angesichts Tausender militant antiisraelisch Demonstrierender in mehreren deutschen Städten, aber auch in Brüssel und Paris, den bei den Gewalt-Ausschreitungen sichtbar gewordenen antisemitischen Judenhass als unerträglich.

 

Die Grünen staatstragend

Die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock forderte um Profil bemüht mehr substanzielle Vermittlung durch die deutsche Politik bis hin zum Einsatz von Sonderemissären und beschwor die gängige Politik-Formel von der Sicherheit Israels als Teil deutscher Staatsräson. Solange aber nicht genauso die Sicherheit der palästinensischen Bevölkerung vor israelischer Gewalt- und Militärräson eingefordert und garantiert wird, bleibt solche Verbalsolidarität einseitig und wird der Lage nicht gerecht. Nicht hilfreich war auch das Intervenieren des deutschen SPD-Außenministers Heiko Maas einseitig zugunsten Israels, indem er bei seinem Kurzbesuch in Israel und bei Abbas die Hamas als allein schuldig an der Eskalation anklagte. Die Hamas-Führung verurteilte umgehend seine Einmischung. Deutschland unterstützt Israel militärisch, was juristisch wegen der strengen Rüstungsexportauflagen in Krisengebiete umstritten ist und die EU pumpt seit Jahren Wirtschaftshilfe in Höhe von jährlich etwa 1 Milliarde Euro in die Palästinenser-Gebiete, von der ein nicht unbeträchtlicher Teil in dunklen Kanälen zu versickern scheint. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban, der loyal an Israels und Netanjahus Seite steht, verhinderte bei einer virtuellen Konsultation der EU-Ländervertreter durch sein Veto eine gemeinsame Erklärung europäischer Staaten zur beiderseitigen Eskalation.

 

Frieden in weiter Ferne

Der israelisch-palästinensische Konflikt ist, wie die Geschichte genügend zeigt, weder mit Geld noch mit militantem Terror oder übermächtiger Militärgewalt zu lösen, sondern nur auf dem Verhandlungs- und Vertragsweg mit allen direkt Beteiligten. Weniger die westlichen Länder als arabisch-islamische Staaten wie Ägypten, Katar, Bahrain, Vereinigte Arabische Emirate, Saudi-Arabien und sogar Russland mit seinen guten Kontakten zur arabischen Seite könnten künftig dabei als Vermittelnde mehr gefordert sein. Bis 1993 galten die Palästinenser-Führer Arafat und Abbas noch als Terroristen, mit denen man weder redete noch verhandelte. Dasselbe ist heute mit der Hamas der Fall, die von den USA und der EU als Terrororganisation verurteilt, ignoriert, ja indirekt bekämpft und ausgegrenzt wird, was auch den Gewaltkonflikt mitbedingt und anheizt. Man wird nicht darum herum kommen, mit Hamas-Vertretern zu reden und sie als gewählte Gaza-Partei zu Verhandlungen vollberechtigt hinzuzuziehen, wenn man einem Dialog-Frieden näher kommen, der Gewalt wirksam Einhalt gebieten und den extremen Hass auf beiden Seiten austrocknen will. Dringend erforderlich wäre dazu auch eine schrittweise Entflechtung der erwähnten gemischten Verwaltungsstrukturen, die die palästinensische Seite spaltet und Unfrieden sät (und es wohl auch soll). Wirkliche Autonomie heißt Selbst-, nicht Fremdverwaltung und Besatzung. Das alte zionistische Ziel, die palästinensische Seite militärisch überlegen zu kontrollieren und durch deren Spaltung eigene Herrschaft zu sichern, muss aufgegeben werden. Hardliner und aggressive Falken wie Netanjahu sind Anachronisten von gestern und taugen nur zur Drohung mit Waffen und Gewalt, aber nicht für einen konstruktiven und dauerhaften sozialen Zwei-Völker-Frieden, der beidseitige Gerechtigkeit miteinschließt. Das alles aber scheint trotz neuer Konstellation noch immer ein langer Weg und wird wie zu befürchten noch viele Menschenleben kosten. © E. K., D-Bremen, 4. Juni 2021.

 

Quellen zum Hintergrund: Zionismus, Faschismus, Kollektivschuld. Beiträge zur Diskussion. Autonome Nahostgruppe Hamburg; Gruppe Arbeiterpolitik Hamburg. Hamburg, April 1989 - Hans Henle: Der neue Nahe Osten. Frankfurt/M. 1972 - Jürgen Mümken und Siebert Wolf (Hg.): „Antisemit, das geht nicht unter Menschen“. Anarchistische Positionen zu Antisemitismus, Zionismus und Israel. Von Proudhon bis zur Staatsgründung (Bd. 1); Von der Staatsgründung bis heute (Bd. 2). Lich/Hessen 2013/14 |