Oder die wiederentdeckte Klassenfrage in der Soziologie.
 
Während die prekären Schichten häufig Schwierigkeiten haben, ihre Interessen in der Öffentlichkeit zu artikulieren, ist die Situation bei den Hochqualifizierten eine ganz andere. Eine gesellschaftliche „Unsichtbarkeit“ droht hier nicht. Im Gegenteil, diese Gruppe ist ganz deutlich sichtbar und in den öffentlichen Debatten sehr präsent.
Diese Präsenz erzeugt Aufmerksamkeit und seit einigen Jahren gibt es eine soziologische Diskussion über die Bedeutung der Hochqualifizierten. Teilweise wird dabei auch mit dem Klassenbegriff operiert, wenn auch nicht im Sinne einer marxistischen Klassenanalyse. Es gibt inzwischen etliche (Buch-)Veröffentlichungen, die sich mehr oder weniger tiefschürfend mit der Gruppe der Hochqualifizierten und deren Stellung in der Gesellschaft befassen. Zu nennen wären etwa aus Deutschland Andreas Reckwitz mit „Das Ende der Illusionen“ oder aus Großbritannien David Goodhart mit „The Road to Somewhere“. Wenn man so will, ist die Gruppe der Hochqualifizierten auch die Basis der von Sarah Wagenknecht in ihrem neuen Buch beklagten „Linksliberalen“ bzw. „Lifestyle-Linken“.
 
Reckwitz postuliert für die jüngere Vergangenheit die Herausbildung einer „neuen Mittelklasse“, diese ... „ist die Klasse der Hochqualifizierten, das heißt derjenigen, die in der Regel über einen Hochschulabschluss verfügen und in der Wissensökonomie im weitesten Sinne beschäftigt sind. Insofern ist sie eine Akademikerklasse“ (Seite 90). Reckwitz spricht von einer erheblichen Bandbreite der Einkommen innerhalb dieser Gruppe, unterscheidet dabei aber nicht zwischen lohnabhängig Beschäftigten, Selbständigen oder kleineren Kapitalisten. Er grenzt seine „neue Mittelklasse“ nach oben nur von einer „Oberklasse der Superreichen“ ab (S. 86). Daneben gibt es nach Reckwitz noch die „alte Mittelklasse“ (keine Akademiker) und die „neue Unterklasse“ oder prekäre Klasse. Dabei geht er davon aus, dass sich die neuen Klassen (also Mittelklasse und Unterklasse) aus einer früher (besonders typisch in den 60er Jahren) existierenden „nivellierenden Mittelstandsgesellschaft“ heraus entwickelt haben. Die „alte Mittelklasse“ ist sozusagen der verbleibende Rest der Mittelstandsgesellschaft. Nach dieser Sicht wurde der Trend zu einer allgemeinen Nivellierung der Klassenunterschiede, den es in der Nachkriegszeit bis in die 70er Jahre gegeben hätte, inzwischen wieder von einer deutlicheren Differenzierung der Klassenstruktur abgelöst..
Reckwitz interessiert sich besonders für die „neue Mittelklasse“. Zur Charakterisierung verweist er vor allem auf kulturelle Phänomene. Typisch wäre das Streben nach Selbstverwirklichung und eine ausgesprochen kosmopolitische Orientierung. Angehörige der „neuen Mittelklasse“ würden sich in den großen urbanen Zentren konzentrieren und wäre relativ wenig ortsgebunden. Sie würden auch für einen langsamen, aber umfassenden Wertewandel stehen, weg von Pflicht und Disziplin betonenden Auffassungen, hin zu Selbstverwirklichung, Genuss- und Erlebnisorientierung. Nach Reckwitz ist die „neue Mittelklasse“ … „die kulturell, ökonomisch und politisch einflussreichste Gruppe der spätmodernen Gesellschaft“ (S. 90). Sie wäre insgesamt progressiv, verbindet wirtschaftsliberale mit linksliberalen Elementen und zeige eine hohe Wertschätzung von Bildung und beruflicher Leistung, von Persönlichkeitsrechten, Gleichberechtigung und Ökologie (S. 96).
 
Für alle diese Aussagen lassen sich natürlich Entsprechungen in der Realität finden. Der Autor liefert in gewissem Sinne eine Momentaufnahme der sozialen Verhältnisse und der Veränderungen der jüngeren Vergangenheit. Auch wenn man die Beschreibung als eine Zuspitzung auf die als besonders typisch eingeschätzten Ausprägungen betrachtet, wird man den Eindruck nicht los, wirklich zutreffend sind die Beschreibungen nur für eine relativ kleine Schicht, bei der sich diese Zuschreibungen konzentrieren. Für die Mehrheit (auch der Akademiker als typische Vertreter) trifft zwar das eine oder andere zu, vieles (z.B. Ortsungebundenheit) aber höchstens teilweise. Andere Tendenzen (z.B. weg von Pflicht und Disziplin, hin zur Selbstverwirklichung) sind auch auf einer viel breiteren Basis feststellbar. Deshalb ist die Abgrenzung zu anderen Gruppen in der Realität viel weniger klar als dargestellt. Die Übergänge sind fließend, oft können kaum Grenzen ausgemacht oder definiert werden. Auch deswegen, weil die genannten Kriterien sich vor allem auf gesellschaftliche Überbauphänomene beziehen, wie Lebensstil, Habitus und Elemente des Bewusstseins. Dabei besteht kein Zweifel darüber, dass diese Überbauphänomene vorhanden sind und von Autoren wie Reckwitz teilweise sehr treffend beschrieben werden. Aber wie relevant sind diese Befunde, was davon ist einigermaßen stabil und was kann auch relativ schnell wieder von anderen, neuen Überbauphänomenen verdrängt werden ?
 
Reckwitz schreibt der „neuen Mittelklasse“ großen Einfluss zu. Sie ist …“die kulturell, ökonomisch und politisch einflussreichste Gruppe der spätmodernen Gesellschaft.“ Hinterfragt man diesen behaupteten großen Einfluss, stößt man immer wieder auf ihre öffentliche und mediale Präsenz. Diese soll im Folgenden etwas näher betrachtet werden.
Als Beleg dafür wird angeführt, dass die Themen, die in der Öffentlichkeit verhandelt werden, weitgehend Themen der akademischen Schichten sind und diese auch mehrheitlich den Resonanzboden für die Debatten bilden. Als typische Themen werden Umwelt, Klimawandel, Feminismus, Anti-Rassismus, Emanzipation und Menschenrechte genannt. Auch viele Menschen, die sich in irgend einer Weise stärker engagieren, sei es in NGOs oder Parteien, rekrutieren sich aus diesen Kreisen. Dabei geht es keineswegs nur um Politik und verwandte Bereiche. Es geht auch um Kultur im engeren wie im weiteren Sinne, um Lebensweisen, Lebensstile, Moden usw. .
Allerdings sollte nicht vergessen werden, Schichten oder Klassen haben nicht einfach Zugriff auf die Medien. Die Medien müssen deren Vertreter auch zu Wort kommen lassen. Eine große Medienpräsenz von bestimmten Themen kann zwar auch als ein Zeichen für deren gesellschaftliche Relevanz gewertet werden. Aber die Themen müssen auch aufgegriffen oder zumindest zugelassen werden. Die Entscheidung darüber liegt bei den Medien bzw. deren Besitzern.
 
Eine ähnliche Einschränkung ist auch hinsichtlich des Engagements in Organisationen zu machen. Sicher ist es zutreffend, dass in vielen Organisationen wie etwa NGOs viele der Aktiven und vermutlich noch mehr der dort angestellten Kräfte empirisch der „neuen Mittelklasse“ nach Reckwitz zugeordnet werden können, weil sie z.B. einen Hochschulabschluss haben. Zu unterscheiden ist aber ein persönliches Engagement für bestimmte Ziele vom Trend zur Akademisierung bei (bezahlten) Funktionsträgern. Ein solcher Trend lässt sich ganz allgemein bei sehr vielen Organisationen, Parteien, Gewerkschaften etc. beobachten. Auch bei solchen, wo das früher vielleicht nicht so üblich war. Für manche dieser Organisationen bedeutet das einen Kulturwandel, der nicht immer reibungslos über die Bühne geht. Aber was bedeutet es noch ? Es mag zu Kommunikationsproblemen zwischen „einfachen Mitgliedern“ und akademischen Funktionären kommen, die durchaus für das Funktionieren der Organisationen relevant sein können. Aber ändert sich deswegen die Organisation grundsätzlich in Zweck und Ziel ? Wohl kaum. Der Trend zur Akademisierung ist ja auch bei ganz unterschiedlichen Organisationen mit den verschiedensten Zielsetzungen zu beobachten. Einfluss und Macht kommt dem dortigen Personal eventuell als Repräsentanten ihrer Organisation und der durch sie vertretenen Interessen zu, aber nicht als Angehörige einer sozialen Schicht wie etwa der „neuen Mittelklasse“.
 
Richtig ist, dass sich die Schicht der Akademiker, im Gegensatz zu weiter zurückliegenden Zeiten, mehrheitlich nicht als konservativ, sondern als kritisch progressiv oder links versteht.
Richtig ist auch, dass die Teile der Gesellschaft, die nicht defensiv den Status quo verteidigen, die zu Veränderungen drängen und dabei einen relevanten gesellschaftlichen und politischen Druck erzeugen, zu einem erheblichen Teil dort verortet werden können, was Reckwitz „neue Mittelklasse“ nennt. Sie machen sich dabei zum Sprecher der Allgemeinheit und thematisieren die offenen Fragen und Widersprüche der Gesellschaft. Die im Mittelpunkt stehenden Themen wie Umwelt, Klimawandel, Feminismus, Anti-Rassismus, Emanzipation, Menschenrechte sind auch nach dem Selbstverständnis ihrer Propagandisten die allgemeinen Themen der Gesellschaft, ja der Menschheit. Dort, wo soziale Fragen aufgegriffen werden, werden diese meistens als (relativ abstrakte) Vorstellungen über soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Nicht-Diskriminierung vorgetragen.
 
Inhaltlich kann man vieles, was in den aktuellen Debatten vorgebracht wird, als kritisch gegenüber dem Status quo der Gesellschaft bezeichnen. Es sind oft mehr oder weniger linke Positionen, die vorgebracht werden. Man kann das durchaus aus der gesellschaftlichen Situation ihrer Träger erklären. Diese leben in einer Gesellschaft, die sich auf einen gewissen Stand der Entwicklung (bürgerliche Demokratie, Rechtsstaat) befindet und die materiellen Wohlstand bietet. Vermutlich spielt dabei auch das Wissen oder die Ahnung eine Rolle, selbst Teil der technisch-professionellen Intelligenz zu sein, die zum Detail-Management der Gesellschaft gebraucht wird. Die eigene Stellung im Gefüge dieser Gesellschaft ist gewiss nicht die herrschende, aber doch eine relativ günstige und verspricht eigentlich Teilhabe. Sie wäre also erhaltenswert und man könnte sich einrichten, wenn da nicht die hässlichen Flecken wie Klimawandel, Umweltzerstörung, Diskriminierungen, latente Kriegsgefahr usw. wären. Errungenschaften und Gefährdungen werden natürlich von den Einzelnen ganz unterschiedlich wahrgenommen und verarbeitet. Daraus ergeben sich dann verschiedene Änderungs- bzw. Reformerwartungen, mitunter auch mehr oder weniger radikale Gegenentwürfe für eine anzustrebende Gesellschaft. Die entwickelten Vorstellungen sind mannigfaltig, verfolgen verschiedene Ansätze und widersprechen sich zum Teil erheblich. Sie konkurrieren gegeneinander um gesellschaftlichen Einfluss und um die Unterstützung von Mehrheiten.
Allerdings sollte man das „links Sein“ nicht überschätzen. Einmal ist es inhaltlich oft sehr vage, zweitens gibt es nicht nur Progressive innerhalb dieser Gruppe. Es gibt auch Wirtschaftsliberale, Konservative und ausgesprochene Rechte, nicht als Mehrheit, aber auch nicht nur als die große Ausnahme.
Und es ist dann auch kein Zufall, dass von den vielen Ideen und Konzepten gerade die erfolgreich sind, die mit der bestehenden Gesellschaft (sprich Kapitalismus) einigermaßen kompatibel bzw. die zu entsprechenden realpolitischen Anpassungen bereit sind.
 
Andreas Reckwitz ist einer der Autoren, die wieder von Klassen und Klassengesellschaft sprechen. Sie brechen damit mit der teilweisen Tabuisierung dieser Begriffe (sie wurden lange nur mit der gleichzeitigen Charakterisierung als überholt oder vergangen gebraucht). Die Soziologen befassen sich wieder mit den großen Unterschieden und Ungleichheiten, deren erhebliche gesellschaftliche und politische Bedeutung für die bestehenden kapitalistischen Gesellschaften anerkannt wird. Sie nehmen zur Kenntnis, dass sich Ungleichheiten immer wieder reproduzieren, wenn auch oft mit veränderten Erscheinungsformen. Das alte Modell von der „nivellierenden Mittelstandsgesellschaft“ mit der angeblichen Auflösung aller Klassen ist nicht mehr haltbar. Trotzdem ist ein Autor wie Reckwitz weit von einer marxistischen Sicht entfernt. Hauptsächlich, weil er sich in seiner Analyse weitgehend auf Überbauphänomene beschränkt. Richtigerweise stellt er fest, dass die Hochqualifizierten zahlenmäßig zugenommen haben und eine wichtige Funktion in der sogenannten „Wissensökonomie“ ausüben. Aber viel weiter wird das nicht mehr untersucht. Was ist diese Wissensökonomie ? Ist sie nur eine zusammenfassende Benennung einiger aktueller Tendenzen oder soll der Begriff einen grundlegenden Wandel in der Gesellschaft zum Ausdruck bringen? Reckwitz setzt bei seiner Klassenanalyse hauptsächlich auf die empirisch einfach feststellbare Tatsache des Hochschulstudiums. Um die Einordnung in den gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozess geht es ihm höchstens am Rande.
 
 
 
Literaturhinweise:
 
Goodhart, David; „The Road to Somewhere“; London 2017
 
Reckwitz, Andreas; „Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne“; Berlin 2019
 
Wagenknecht, „Sarah; Die Selbstgerechten, Mein Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt“; Frankfurt 2021