Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vom 14. Mai und 28. Mai haben der Opposition eine Niederlage beschert. Dabei sahen die Umfragen den Kandidaten der Opposition, Kılıçdaroğlu, weit vorne, teilweise um bis zu zehn Prozent. Die kurdische Bewegung und die sozialistischen, kommunistischen Parteien riefen zur Wahl des Kandidaten der Opposition auf und es sah alles danach aus, dass der amtierende Präsident Erdoğan abgewählt wird. Doch Erdoğan bleibt Präsident, er wurde mit 52 Prozent der abgegebenen Stimmen im zweiten Wahlgang gewählt.

Umso heftiger ist die Katerstimmung bei der Opposition.

Dabei ist die Lage noch katastrophaler als die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl auf den ersten Blick vermuten lassen: von den 600 Sitzen des türkischen Parlaments haben die neoliberalen, islamistischen, faschistischen und konservativen Parteien über 400 Sitze erobert.

Ein Verdienst für dieses Ergebnis gebührt auch der kemalistischen CHP (Republikanische Volkspartei), die ihre Wahlliste für konservative, neoliberale und islamistische Parteien aufmachte. Von den gewonnenen 169 Mandaten der CHP gehen 40 an diese Parteien. IYIP, eine Abspaltung der faschistischen MHP kandidierte mit einer eigenen Liste, unterstützte aber den Kandidaten der CHP Kılıçdaroğlu für das Präsidentschaftsamt und bekam 43 Sitze in dem neuen Parlament.

Von der kurdischen HDP und einigen sozialistischen Parteien war das „Bündnis für Arbeit und Freiheit“ gegründet worden, das sich nach eigenen Aussagen nicht auf die Wahlen beschränkt. Da im Vorfeld der Wahlen das Verbot der HDP drohte, beschloss man auf der Wahlliste der YSP (Grün Links Partei) zu kandidieren. Eine der Bündnispartnerinnen, TIP – Arbeiter*innenpartei der Türkei scherte aus und trat mit einer eigenen Wahlliste an und so konnte nicht ausbleiben, dass die Bündnispartner*innen sich in einigen Metropolen gegenseitig Stimmen abwarben. Die Ergebnisse waren auch hier ernüchternd, die YSP bekam 61, die TIP 4 Sitze. Mit einer gemeinsamen Liste wären hier bessere Ergebnisse drin gewesen.

Das Wahlbündnis „Volksallianz“, bestehend aus der Regierungspartei AKP, der faschistischen MHP und der ebenso faschistischen BBP, der islamistisch-kurdischen HÜDA-PAR und der islamistischen YRP bekam 323 Sitze. Davon gingen 50 Sitze an die MHP, die mit einer eigenen Wahlliste antrat, an die AKP, auf deren Liste die anderen reaktionären Parteien kandidierten, gingen 268 Sitze.

Damit bekam die Linke, wenn man denn die CHP dem linken Lager zuschlagen möchte, zusammen nur 194 Mandate.

Grobe Verstöße bei den Wahlen kamen diesmal wohl nicht vor. Aber was heißt das schon in einem Land, in dem die staatliche Rundfunk- und Fernsehanstalt TRT im Wahlkampf dem Präsidenten Erdoğan knapp 48 Stunden Sendezeit einräumte, aber dem Kandidaten der Opposition Kılıçdaroğlu nur 32 Minuten? Selbstverständlich verstößt das gegen die Gesetze, aber wenn es kein Gericht gibt, das solche Verstöße ahndet, werden sie nur immer dreister. Bei den Privatsendern sah es nicht besser aus. Dass die Parteien des Bündnisses für Arbeit und Freiheit überhaupt keine Sendezeit bekamen, versteht sich bei diesen Verhältnissen von selbst.

Der regierende Machtblock setzte von Anfang an auf Nationalismus, das traditionelle Frauenbild, auf Diskriminierung von Minderheiten und warnte die Bevölkerung vor der vermeintlichen Islamfeindlichkeit der Opposition. Die Regierung stellte die ganze Wahlpropaganda auf die Erfolge der „neuen Türkei“ ab. Das waren im Wesentlichen die großen Bauprojekte wie Brücken und Tunnels unter und über die Dardanellen, den Bosporus usw., ihre „Verdienste“ in der nationalen Rüstungsindustrie, das erste „rein türkische“ Elektroauto und ähnliches. Die Propaganda der herrschenden Islamisten und Faschisten bezeichnete das Bündnis für Arbeit und Freiheit als Terroristen, die bürgerliche Opposition als Terrorhelfer.

Aber ausschlaggebend für den Wahlsieg war die Tatsache, dass die Politik der AKP vor den Wahlen darauf setzte, um jeden Preis die Wirtschaft am Laufen zu halten, auch wenn dies eine Verarmung der Bevölkerung bedeutete. Mit der Senkung der Zinssätze bzw. der Weigerung sie zu erhöhen, überschüttete Erdoğan Investoren aller Couleur mit billigen Krediten. Vor der Wahl betrug der Leitzins 8,5 Prozent. Und das bei einer offiziellen Inflation von über 40 Prozent! Die Lohnkosten sanken mit dem Anstieg des Wechselkurses und dies brachte das Ausbleiben von Massenentlassungen mit sich. Auch wenn die Mindestlöhne im Sechs-Monats-Rhythmus angehoben werden, sinkt der Reallohn seit Jahren. Aber mit den billigen Krediten konnten sich auch die Arbeitenden verschulden und konsumieren. Mit anderen Worten: Weil sich die Räder weiter drehten, kam es nicht zu einer klassischen Krise.

Darüber hinaus hat das gigantische Almosennetzwerk, das durch Ministerien, Kommunen, islamische Stiftungen, Sekten und Gemeinden aufgebaut wurde, ein Reservoir für Millionen von Wähler*innen geschaffen, die von der Regierung abhängig sind. Deshalb haben Arbeiter*innen die nicht mehr als den Mindestlohn bekommen, diejenigen, die im Dienstleistungs- und informellen Sektor arbeiten, die städtischen Armen, die prekär Beschäftigten und die Beschäftigten des Leiharbeitsregimes, alle diejenigen, die zum Überleben direkte Einkommensunterstützung benötigen, für Erdoğan gestimmt. Die Erhöhung der Mindestlöhne auf knapp 390 Euro (die durch Inflation und Wechselkurs wieder abgeschmolzen sind) und die Erhöhung der Renten trugen ebenfalls dazu bei.

Die bürgerliche Opposition hatte hier keine handfesten anderen Vorstellungen anzubieten, die über die „Rückkehr zu einer regelbasierten Wirtschaft“ hinausgehen, die vor allem durch ehemalige AKP-Wirtschaftsgrößen repräsentiert wurde. Eine Wirtschaftspolitik, die auf Zinserhöhungen, strenge Geldpolitik und einer „unabhängigen Zentralbank“, also einem Sparprogramm mit oder ohne IWF basiert, war in den Augen der Menschen keine Alternative. Auch der auf die rechten Stimmen schielende nationalistische Wahlkampf der bürgerlichen Opposition, zum Beispiel durch das Versprechen nach der Wahl Millionen von Flüchtlingen abzuschieben, war vergebens. Hier bestätigte sich wieder einmal die These, dass die Menschen im Zweifel für das Original stimmen, aber die ganze Stimmung nach rechts abdriftet.

Die sozialistische Opposition konnte ihren Vorstellungen wie dieser Teufelskreis zu durchbrechen ist, mit Selbstorganisierung, Laizismus, sozialstaatlicher Wirtschaftspolitik, Gleichstellung der Geschlechter und der „Völker“ der Türkei außerhalb ihrer eigenen Kreise kaum Gehör verschaffen.

 

Wie weiter?

 

Die neue Zentralbank-Chefin hat die Leitzinsen auf 15 Prozent angehoben, im Juli sollen auch die Mindestlöhne auf 11.402 Lira steigen (bei derAnkündigung der Erhöhung sollte der Mindestlohn umgerechnet auf 440 Euro steigen, jetzt Ende Juni ist er aufgrund der Abwertung der türkischen Lira bereits auf 400 Euro gesunken). Die offizielle Inflation liegt weiter bei über 40 Prozent, für die Lebenshaltungskosten der Arbeiterklasse weit über 80 Prozent und mehr. Das heißt, dass die Verarmung der Werktätigen weiter geht. Ob daraus neue Kämpfe entstehen ist bisher nicht abzusehen.

 

 

Türkei: Ganz normaler journalistischer Alltag

 

Der oppositionelle Fernsehsender TELE 1 steht der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP nahe und wurde in der Vergangenheit mehrmals mit Sendeverboten und Geldstrafen belegt, ein übliches Verfahren gegen missliebige Medien.

Ende Juni wurde der Chefredakteur von TELE 1, Merdan Yanardağ wegen „Verherrlichung von Verbrechen und Kriminellen“ und „Propaganda für eine terroristische Organisation“ festgenommen.
Das zuständige Gericht erließ einen Haftbefehl, seitdem sitzt er in Untersuchungshaft.

In der Türkei sind Festnahmen von Oppositionellen Alltag, die Vorwürfe sind frei erfunden oder eigentlich nicht strafrelevant. Das kümmert aber die Herrschenden nicht – wer stört muss bestraft werden. Richter*innen, Staatsanwält*innen und die ganze Staatsbürokratie sind fest in ihren Händen, es gibt kaum Gerichtsurteile, die im Gegensatz zu den Wünschen der Regierung stehen. Viele politische Gefangene sitzen jahrelang ohne Anklage in Untersuchungshaft, tausende verlieren ihre Arbeit und bestimmte bürgerliche Rechte. Das soll einschüchtern. Das soll vom Kampf abhalten.

In der Regel werden mit solchen Maßnahmen sozialistische und kurdische Aktivist*innen und Journalist*innen belegt. Selten trifft es die bürgerliche Opposition. Wenn doch, dann weil bürgerliche Journalist*innen z.B. die dreckigen Machenschaften der Regierenden öffentlich gemacht haben.

Ein Beispiel dafür ist der Prozess gegen die Journalisten der Tageszeitung Cumhuriyet 2015, die die als Hilfslieferung getarnten Kriegsgerätelieferungen durch den türkischen Geheimdienst MIT an den IS aufdeckten. Der damalige Chefredakteur der Zeitung, Can Dündar, lebt heute in Deutschland im Exil.

Nun wird also erneut versucht, einen renommierten bürgerlichen Journalisten mundtot zu machen und gleichzeitig seinen TV-Sender mit Strafen zu belegen. Merdan Yanardağ, hatte in einer Livesendung mit seinen Studiogästen verschiedene Themen behandelt, unter anderem die kurdische Frage und im Zusammenhang damit die Situation des ehemaligen Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan. Sein Statement, woraus die Staatsanwaltschaft „Propaganda für eine terroristische Organisation“ macht, lautete so:

„Wenn wir İmralı (Gefängnisinsel im Marmarameer; Redaktion) betrachten, spreche ich von Abdullah Öcalan, der über 70 Jahre alt ist und der, das muss man zugeben, sehr lange im Gefängnis und in der Isolation war, seit 25 Jahren ohne Unterbrechung.

Er ist der dienstälteste politische Gefangene in der Türkei. Wenn die normalen Vollzugsgesetze angewandt würden, müsste er eigentlich freigelassen werden, auf Hausarrest oder so. Die gegen Abdullah Öcalan verhängte Isolation ist rechtlich nicht haltbar. Sie muss aufgehoben werden, denn wir können ihn weder sehen noch hören noch über ihn diskutieren. Wir wissen nicht, ob er zuschaut oder nicht.
Sie halten ihn als Geisel fest, aber sie verhandeln mit ihm (über die kurdische Bewegung; Redaktion). Sie sprechen Drohungen gegen ihn aus.

Er darf sich nicht einmal mit seiner Familie treffen, er darf sich nicht mit seinen Anwälten treffen. Kann es einen solchen Vollstreckungsbeschluss geben? Abdullah Öcalan ist kein Mensch, den man auf die leichte Schulter nehmen sollte. Er ist im Gefängnis fast zu einem Philosophen geworden, weil er nichts anderes tut als lesen. Er ist ein äußerst intelligenter Mensch, der liest, sieht und die Politik richtig analysiert.“