Buchbesprechung

Dieses Buch ist ein Ärgernis. Das liegt sowohl an der Autorin wie am Segment der chilenischen Opposition, das sie beschreibt. Sophia Boddenberg ist eine freie Journalistin,1 die für deutsch- und englischsprachige Medien aus Chile und Lateinamerika berichtet. In Deutschland finden sich ihre Beiträge im Spektrum von der Zeit bis zur jungen Welt.

Beim Lesen hat man den Eindruck, dass sie sich beim Verfassen des Buches an den Vorgaben deutscher Fördereinrichtungen orientiert hat. Kommunisten werden nur dann erwähnt, wenn es sich nicht vermeiden lässt. So ist Camila Vallejo das einzige Parteimitglied, das namentlich genannt wird. Als tendenziell negatives Beispiel einer ehemaligen Studentenführerin, die sich ins Parlament hat wählen lassen. Ihre Organisationszugehörigkeit fällt aber unter den Tisch. Vallejo verdankt ihre Anwesenheit in dieser Arbeit der internationalen Öffentlichkeit. Schließlich war sie die erste Kommunistin, die nach dem Fall der Mauer von einer Massenbewegung auf die Titelseiten der internationalen Medien gehievt wurde. Ihr Fehlen wäre dem an Chile interessierten Leser aufgefallen.

Die KP, sie ist inzwischen wieder ein fester Bestandteil des politischen Panoramas des Landes, wird ein einziges Mal genannt in einem Rückblick auf das Sicherheitsgesetz, mit dem sie in den 50er Jahren verboten wurde. Dieser Umgang mit einer Kraft, die in jahrelanger Arbeit den politischen Raum geöffnet hat, in dem die aktuelle Bewegung agieren kann, ist, gelinde gesagt, unprofessionell.

Auch antikommunistische Schriften können interessant sein. Doch leider fehlt es dieser Arbeit an der dazu notwendigen Qualität. Häufig möchte man die Autorin zur Ordnung rufen. So, wenn sie sich die Aussagen von zwei chilenischen Akademikern zu eigen macht. “Tatsächlich habe der Neoliberalismus Chile weder Modernisierung noch Entwicklung gebracht, da er die nationale Industrie zerstört und das Land vom Rohstoffexport abhängig gemacht habe.” (S. 36) Abgesehen von der Frage, wie man Modernisierung und Entwicklung definiert, möchte man alle drei fragen: Wann war Chile nicht vom Rohstoffexport abhängig?

Oder im Zusammenhang mit einem versuchten Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Piñera: “Ein historischer Vorgang, denn eine solche Klage gab es in Chiles Geschichte zuvor nur ein einziges Mal, im Jahr 1956 gegen den damaligen Diktator Ibáñez del Campo.” (S. 73) An dieser Stelle hätte der Autorin der Widersinn ihrer Aussage auffallen können. Einen Diktator kann man nicht mit einem Amtsenthebungsverfahren abzusetzen. Richtig ist, dass Ibáñez zwei Mal in demokratischen Wahlen zum Präsidenten Chiles gewählt worden ist.

Der Erfahrungshorizont der Autorin

Wie kommt es, dass Boddenberg so etwas zu Papier bringt? Laut ihrer Homepage machte die junge Frau in Deutschland ihren Bachelor in Journalistik. Dem folgte ein Master in Sozial- und Politikwissenschaften an einer privaten Universität in Santiago. Sie lebt daher seit 2014 in Chile, arbeitet aber erst seit 2016 als Journalistin.

Was konnte man in dieser Zeit in Chile erleben? Das letzte wichtige Ereignis vor der sozialen Explosion, die Studentenbewegung von 2011, war da schon Geschichte. Vor dieser Bewegung konnte sich der Neoliberalismus fast ungestört entwickeln. Die wirtschaftliche Reformpolitik der KP Chinas führte in den 90er Jahren zu einem deutlichen Ansteigen der Rohstoffpreise. Das brachte Geld in Chiles Kassen. Diesen Zusammenhang sahen die Menschen nicht. Sie hielten das ökonomische Wachstum in Chile für ein Resultat der neoliberalen Politik.

Kritik konnte man damals nur noch gegenüber Angehörigen der antikapitalistischen Linken äußern. Alle anderen ließen solche Gedankengänge, aus Furcht vor der Rückkehr der Militärs oder weil die Realität scheinbar das Gegenteil bewies, nicht mehr zu. Die traditionelle Linke war fast vollständig aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Das Wahlrecht machte sie zu einer außerparlamentarischen Kraft, über die man nicht berichtete. In der Concertación warteten viele bereits auf das biologisch bedingte Aussterben der KP.

Diesen Zustand hat die Studentenbewegung 2011 zerstört. Danach gab es wieder Spielraum für antikapitalistische Fragestellungen. Die KP konnte mit einer geschickten Bündnispolitik und profilierten Köpfen wie Camila Vallejo ihre Isolierung aufbrechen. Dieser Linksruck führte zu den Reformen während der zweiten Regierung Bachelet. Wichtige Gesetze wurden aber vom Verfassungsgericht einkassiert. Das zeigte, dass grundsätzliche Änderungen im Rahmen der bestehenden Verfassung nicht möglich sind. Somit hat eine erfolgreiche Arbeit der Concertación unter Bachelet, und damit auch der KP, die sie mit ihrer Politik nach links bugsierte, die Basis für die aktuelle Revolte geschaffen. Das wird im Buch aber nicht so beschrieben. Dort geht es nur um die enttäuschten Hoffnungen, die sich mit ihrer Regierung verbinden.

Trotz der von den Studenten angestoßenen Veränderungen waren politische Themen in großen Teilen der Gesellschaft immer noch ein Tabu. Doch die Universitäten waren auf eine unvorstellbare Weise politisiert. Die dort vertretenen Positionen gingen ins Extreme. Das darf man aber nicht mit Links gleichsetzen. Realistische Positionen wie die der KP hatten es dort schwer. In diesem Umfeld sind die Organisationen entstanden, die sich später zur Frente Amplio zusammengeschlossen haben.

In diesem intellektuellen Milieu ist die Autorin mit ihrem Studium in Chile gelandet. Als Folge davon stellt sie in ihrer Veröffentlichung nur einen Ausschnitt der sozialen Kräfte der Revolte dar. Die Einordnung dieser Bewegung in das Beziehungsgeflecht der unterschiedlichen Akteure unterbleibt.

Ein Rückblick in die Geschichte

Im Zuge ihrer Integration in die chilenische Gesellschaft scheint sie an Teile der familia Mirista geraten zu sein. Das ist ein Netzwerk von Menschen, die früher in einer Beziehung zum historischen MIR, der Bewegung der Revolutionären Linken, gestanden haben. Der MIR und ein nicht unerheblicher Teil der Sozialistischen Partei haben eine gerüttelte Mitschuld an den Zuständen, gegen die sich die aktuelle Revolte richtet.

Avanzar sin tranzar, was man mit Voranschreiten ohne zu verhandeln übersetzen kann, war ihre Parole. Sie glaubten tatsächlich, dass ein sozialistischer Präsident, dem die Christdemokraten das Tor zum Regierungssitz aufgesperrt hatten, zusammen mit ca. 40% der Bevölkerung eine sozialistische Gesellschaft aufbauen kann. Wegen dieser Illusion verhinderten sie, dass Allende beizeiten zurücktreten konnte. Damit wäre er dem Militärputsch zuvor gekommen und man hätte Chile dann nicht so einfach in ein neoliberales Versuchslabor umwandeln können.

Ihr Kontakt zur familia Mirista ergibt sich aus der Beschreibung von Gesprächspartnern und Zitaten aus Interviews mit Gabriel Salazar. Diese Aussagen durchziehen das Buch wie ein Roter Faden. Salazar ist ein ernst zu nehmender Historiker, chilenischer Nationalpreisträger und war Anfang der 70er Jahre Mitglied des MIR. Der Rezensent schätzt seine Bücher, man muss aber seine Analysen von seinen ideologischen Träumen unterscheiden können.

Offensichtlich glaubt Salazar noch immer, dass unter Allende eine sozialistische Revolution möglich gewesen wäre. “Wenn Allende in Chile mit seinem Modell der sozialistischen Revolution triumphiert hätte, hätte sich das Experiment von Allende in Lateinamerika ausgebreitet …” (S. 42) In diesen wenigen Worten stecken gleich zwei Irrtümer.

Erstens, auch ohne Militärputsch hätte es keine sozialistische Revolution gegeben. Allende wäre dann drei Jahre später von einem Einheitskandidaten der Opposition abgelöst worden.

Zweitens, das Experiment Allende hat sich in Lateinamerika verbreitet. Lässt man den Sonderfall Venezuela beiseite, ist das bekannteste Beispiel Bolivien. Dort beschränkt man sich aber auf Allendes politische Agenda. Revolutionäre Träume, wie sie der MIR kultivierte, fehlen dort.

Salazar kann sich wahrscheinlich aus psychologischen Gründen nicht von seinen alten Gewissheiten lösen. Sind doch wegen dieser Überzeugung hunderte von Genossen gestorben, darunter sicher auch enge Freunde. Kann sich jemand eingestehen, dass die eigene, falsche, Linie der Grund für den Tod dieser geliebten Menschen ist? Ich denke, nicht. In diesem Fall ist es den Betroffenen nicht möglich, die alten Ansichten zu revidieren. Durch diesen mentalen Mechanismus klebt an der chilenischen Gesellschaft ein Fluch der bösen Tat. Das eigene Verhalten in der Vergangenheit kann nicht wirklich kritisch hinterfragt werden. Als Folge kommt es zur Wiederholung der begangenen Fehler.

Eigentlich wäre es gerade die Aufgabe von Historikern wie Salazar, den Nachgeborenen die damaligen Vorgänge zu erklären. Dazu gehört auch folgender Punkt: Warum hat sich in der revolutionären Linken niemand die Frage gestellt, warum die Christdemokraten Allende zum Präsidenten gewählt haben. Wegen der Abwesenheit dieser Fragestellung blieb die gesellschaftliche Realität außerhalb des Sichtfeldes dieser Strömung, mit den bekannten dramatischen Konsequenzen.

Das Abkommen zwischen der Regierung und der Opposition

Dieses Defizit wiederholt sich heute. Jetzt nicht von radikalen Linken, sondern von radikalen Linksliberalen. _"Um die nachbarschaftlichen Versammlungen, die sich während der Revolte in ganz Chile gegründet haben, geht es in diesem Kapitel. Sie sind der Ausgangspunkt des verfassungsgebenden Prozesses, den die Chilen*innen fernab der staatlichen Institutionen in ihren Stadtvierteln begonnen haben."_ (S. 119)

Glaubt die Autorin wirklich, was sie da schreibt? Dass eine Gruppe von Menschen auf einem öffentlichen Platz einen verfassungsgebenden Prozess anstoßen kann? Ohne jeden Marsch durch die staatlichen Institutionen? Und nach Fertigstellung des neuen Grundgesetzes halten sich alle gesellschaftlichen Akteure daran, auch Unternehmer, Polizei und Armee?

Das ist eine Illusion. Ihre Aufgabe als Berichterstatterin wäre es, diese Vorstellungen als Träume einiger Akteure einzuordnen. Schließlich hat der tatsächlich stattfindende verfassungsgebende Prozess mit dem Abkommen zwischen Regierung und Opposition begonnen. Nach allem, was man inzwischen aus Chile hört, spielte für dieses Zugeständnis der Regierung auch ein eintägiger Solidaritätsstreik der Gewerkschaften eine wichtige Rolle.

Für das Segment der Opposition, aus dem sie berichtet, geschieht damit etwas Unerwartetes. Doch lassen wir sie etwas ausführlicher zu Wort kommen. “Auch Gabriel Boric, ein Abgeordneter der Frente Amplio, nimmt an den Verhandlungen teil, was viele ihm nicht verzeihen werden und was zu einer Krise des linken Bündnisses führt, das einst Hoffnungsträger war. Mit einer kriminellen Regierung, die Menschenrechte verletzt, sollte nicht verhandelt werden, meinen Gegner des Abkommens.” Und etwas weiter im Text:

“Das Abkommen sorgt zunächst für Verwirrung. Auf den Straßen wird seit Wochen eine Asamblea Constituyente, eine verfassungsgebende Versammlung gefordert und auch schon in den Versammlungen in den Stadtvierteln vorbereitet. Diese steht aber nicht zur Wahl. Manche sagen, die Convención Constituyente sei dasselbe wie eine Asamblea Constituyente. Andere sprechen von einem Betrug durch die Politikerinnen, die den Prozess, der bereits in den Asambleas in den Stadtvierteln begonnen hat, institutionalisieren wollen. In vielen Versammlungen wird darüber gestritten, ob beim Referendum abgestimmt oder ob es besser boykottiert werden sollte.” (S. 123)

Hier finden wir ähnliche Illusionen wie damals bei den Linksradikalen. Als Folge sieht man nicht, was gerade erreicht werden könnte und lässt den historischen Moment ungenutzt. Die Verbindung der damaligen Vorgänge mit heute stellt die Autorin, natürlich positiv gesehen, selber her. Sie fasst dafür eine aktuelle Broschüre von Salazar zusammen.

"Diese Art der Organisation wird auch Poder Popular genannt, die Macht des Volks. Während der Regierung der Unidad Popular in den 1970er-Jahren riefen die Menschen auf den Straßen »Crear Poder Popular«. Auch damals gab es Nachbarschaftsversammlungen und sogenannte cordones industriales oder comandos comunales, in denen sich die Arbeiterinnen und Bewohnerinnen der Stadtviertel organisierten. Sie waren es, die während der Militärdiktatur solidarische Suppenküchen und Proteste organisierten, um Widerstand gegen die Diktatur zu leisten. (S. 124/125)

Sie zitiert auch Salazar direkt: “Die Entwicklung der politischen Autonomie und des Poder Popular der neuen »sozialen Bewegungen« wurde nicht von der Diktatur unterdrückt, sondern im Gegenteil verstärkt und vervielfältigt.” (S. 125)

Man glaubt nicht, was man da liest! Eine direkte Linie von den Cordones Industriales zu den Suppenküchen in der Endphase der Diktatur. So als ob dazwischen nichts gewesen wäre, keine Toten, keine Verschwundenen und Tausende, die ins Exil gezwungen wurden. Und die Diktatur hat die Volksmacht (Poder Popular) nicht unterdrückt, sondern gefördert! Das zeigt den Sieg des neoliberalen, individualistischen Denkens nicht nur im Kopf von Gabriel Salazar.

Leider sind diese Einstellungen keine Minorität. Das, was Salazar als Entwicklung der politischen Autonomie feiert, führt dazu, dass gegenwärtig fast jedes soziale Segment Chiles an seiner Kandidatur, manchmal auch mehreren, für die Verfassungsgebende Versammlung arbeitet. Dadurch werden viele Stimmen verloren gehen. Das nützt dem geschlossen auftretenden Block der Anhänger der Diktatur und ihres ökonomischen Modells. Daher besteht die große Gefahr, dass der mit der sozialen Explosion hoffnungsvoll gestartete Zyklus des politischen Kampfes in einem Fiasko enden wird. Hoffentlich bedeutet die dann folgende Entmutigung keinen Rückschritt zu Verhältnissen, wie man sie aus den Zeiten vor der großen Studentenbewegung kennt.

Den Grund für die Mängel des Buches findet man am Schluss. “Bei der chilenischen Revolte geht es um viel mehr als um den Rücktritt der Regierung oder um soziale Reformen. Es geht darum, eine Gesellschaft aufzubauen, die nicht durch Individualismus, Konkurrenzdenken und Konsum geprägt ist, sondern durch Gemeinschaft, Solidarität und Respekt.” (S. 129) Das mögen viele Aktivisten so sehen, ist aber trotzdem falsch. In Chile geht es im Moment bestenfalls um einen Zwitter zwischen Neoliberalismus und Sozialstaat. Etwas ähnliches, wie wir es in Deutschland haben. Die Illusionen der Aktivisten sind wahrscheinlich zu ihrer Selbstmotivation notwendig. Doch eine ausländische Berichterstatterin sollte die Realität erkennen und ihren Lesern auch vermitteln. Es ist schade, dass sie es nicht tut, da sich in dem Buch durchaus auch interessante Beschreibungen der neoliberalen Normalität finden.

Dass der von Boddenberg gefeierte Politikansatz zum Scheitern verurteilt ist, ahnt sie selber. Die Autorin hält eine internationale Unterstützung der Revolte für notwendig. Doch fehlt der Adressat, an den diese Forderung gerichtet sein könnte. Die westlichen Regierungen, die ihre Länder weiterhin Schritt für Schritt nach dem Vorbild Chile umbauen? Eher nicht! Die Bevölkerungen dieser Länder, die ihre Regierungen dabei nicht wirklich hindern? Wohl auch nicht. Letzteres wird erst geschehen, wenn hier die gleichen unerträglichen Zustände herrschen wie dort. Daher bleibt den in Chile gegen den Neoliberalismus arbeitenden Akteuren nichts anderes übrig, als zu Vernunft und zur Einheit zu finden.

Emil Berger

  1. http://sophiaboddenberg.com/

 

Sophia Boddenberg „Revolte in Chile.“

UNRAST Verlag, Münster, 2020 142 Seiten, 14,00 €

ISBN 978-3-89771-081-8