Die Befreiung der Arbeiterklasse muss das Werk der Arbeiter selbst sein!

Arbeiterstimme

Zeitschrift für marxistische Theorie und Praxis

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  4. Nr. 229

Literaturtipp

Der spanische Bürgerkrieg

Die Niederlage der spanischen Republik 1939 war eine Niederlage für die spanische und internationale Arbeiterbewegung und ist bis heute Thema ungezählter Bücher.

Die Aufsätze in dem vorliegenden Buch sind erstmalig in der Arbeiterstimme in den Ausgaben September 1986 bis Oktober 1987 veröffentlicht und später in einer Broschüre zusammengefasst worden.

Weiterlesen: Der spanische Bürgerkrieg

Nr. 229

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Arbeiterstimme Nr. 229

Inhalt:

Trump, die Ökonomie und die Zölle
In eigener Sache
Oxfams Ungleichheitsbericht und die Macht der Milliardäre
Klassenfragen enden nicht nach 67 Lebensjahren
Starmers Labour, ein neues Projekt
 
Rezensionen:
Verzweifelts Vermächtnis: Jean Zieglers "Trotz alledem"
Feuerdörfer, Wehrmachtsverbrechen in Belarus
Karuscheits Trilogie zur neueren deutschen Geschichte
Leserbrief zur linksradikalen Politik der KPD

Trump, die Ökonomie und die Zölle

 

Seit seinem Amtsantritt zur zweiten Präsidentschaft ist Donald Trump dabei, einschneidende Korrekturen an der bisherigen Politik der USA umzusetzen, mit am spektakulärsten bei der Zollpolitik. Meistens geschieht das in typischer Trump-Manier, mit radikalen Ankündigungen, deren baldige Aussetzung, Verhandlungen über Deals, begleitet von neuen Drohungen usw.. Diese Politik wird oft als erratisch und chaotisch bezeichnet, eine Kennzeichnung, die durchaus ihre Berechtigung hat. In den hiesigen Medien liest man häufig Wortmeldungen von Ökonomen, die erklären, wie schädlich die Zölle für die Weltwirtschaft wären, auch den Amerikanern selbst würden sie keineswegs nützen. Dieser Kritik kann man, zumindest in vielen Fällen, eine Berechtigung nicht absprechen.

Trumps Politik ist sicher nicht frei von Widersprüchen und er handelt nicht kohärent im Sinne einer ökonomischen Schule. Trotzdem folgt das Agieren Trumps einer Logik und basiert auf einer Interpretation der US-amerikanischen Interessen. Das soll im folgenden aufgezeigt werden.

  • Ökonomie

Weiterlesen: Trump, die Ökonomie und die Zölle

Karuscheits Trilogie zur neueren deutschen Geschichte

Vorbemerkung der Redaktion:

Die folgende Rezension hat innerhalb der Redaktion größere Diskussionen ausgelöst. Die vom Autor vertretene weitgehende Zustimmung zu den Thesen Heiner Karuscheits stieß auf Kritik. Es bestand zwar Konsens darüber, dass die von Karuscheit vorgebrachten Argumente, etwa die starke Stellung des Adels in der Armee, die undemokratischen Verhältnisse in Preußen und die deutsche Neigung zum Obrigkeitsstaat, ihre Berechtigung haben und bei der Einschätzung der Geschichte berücksichtigt werden müssen. Aber, so der Einwand, Karuscheit und damit auch der Rezensent würden dabei zu weitgehende Schlüsse ziehen. Das Kaiserreich von 1871 bis 1918 müsse im Kern als bürgerlicher Staat, wenn auch mit Abweichungen von dessen Idealbild, angesehen werden. Die Junker seien zwar überproportional einflussreich gewesen, aber nicht die herrschende Klasse in diesem Staat und zu dieser Zeit.

Mit diesen kritischen Anmerkungen in Kurzform soll die Diskussion aber keineswegs abgeschlossen werden, ganz im Gegenteil.

 

Der Zufall wollte es, dass kurz zuvor auch ein Leserbrief von Heiner Karuscheit selbst einging, der ebenfalls im folgenden abgedruckt wird.

 

Karuscheits Trilogie zur neueren deutschen Geschichte

Teil 1: Die Vorgeschichte des 1. Weltkrieges

Anfang dieses Jahres ist das Buch Der deutsche Rassenstaat. Volksgemeinschaft & Siedlungskrieg: NS-Deutschland 1933-1945. im VSA-Verlag erschienen. Es setzt die Reihe von Untersuchungen zur deutschen Geschichte fort, die Heiner Karuscheit vor über zehn Jahren mit seiner Arbeit Deutschland 1914. Vom Klassenkompromiss zum Krieg. begonnen hat. In der Zwischenzeit hat er Die verlorene Demokratie. Der Krieg und die Republik von Weimar. geschrieben. Diese Analysen bauen aufeinander auf, daher muss man sich entsprechend der historischen Abfolge mit ihnen beschäftigen. Können die Thesen einer Arbeit widerlegt werden, erübrigt sich die Beschäftigung mit den folgenden. Daher startet die Serie mit Deutschland 1914. In Zukunft werden wir in loser Folge seine weiteren Arbeiten vorstellen. (Anmerkung: Dieser Absatz sollte über die gesamte Breite der Seite gesetzt werden.)

Jemand, der im Westen Deutschlands Sozialist werden wollte, konnte die dafür notwendige Bildung nicht in seiner Schule erhalten. Er musste sich andere Lehrer suchen. Hier standen viele Alternativen zur Verfügung. Beim Autor dieser Zeilen reichte das von Bernt Engelmann1, einem linken SPDler, über die Zeitschrift KONKRET und die frühe taz, bis zum Trotzkismus und der DKP.

Die dort anzutreffende Erklärung für den Ersten Weltkrieg findet sich gut zusammengefasst in einem Geschichtsbuch der DDR wieder: “Durch die ungleichmäßige Entwicklung der kapitalistischen Staaten hatten sich seit der Jahrhundertwende die Gegensätze zwischen ihnen verschärft. Die imperialistischen Großmächte drängten auf eine Neuaufteilung der Welt und waren bereit, ihre wirtschaftlichen Interessen mit den Mitteln des Krieges durchzusetzen. Besonders aggressiv war dabei der deutsche Imperialismus. Er wartete auf eine Gelegenheit, seine Eroberungspläne zu verwirklichen.”2

So wie man in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern die Lehrinhalte der Schule akzeptierte, machte man das bei politischen und historischen Fragen, mit Einschränkungen, bei den oben genannten Institutionen. Hinsichtlich des Ersten Weltkrieges gab es keine wirklichen Differenzen. Daher dachte man, dass die ihn auslösenden Faktoren zumindest in der Linken nicht mehr strittig seien. Doch mit der Zeit kamen einem erste Zweifel.

Das hatte mit Beschreibungen des erfolgreichen Wirkens der deutschen Industrie im Europa vor dem Großen Krieg zu tun. Man stellte verblüffende Ähnlichkeiten mit der Art und Weise fest, wie sich diese Industrien nach dem Zweiten Weltkrieg Europa ökonomisch unterworfen haben. Was hätten sie in so einer Lage mit einem Krieg gewinnen können?

Daneben stieß man immer wieder auf Hinweise, dass nicht alle Industriellen bzw. Industriezweige an einer annexionistischen Außenpolitik interessiert waren. Als Beispiel soll ein Zitat von Hugo Stinnes dienen, das vor Jahren Otto Köhler ausgegraben hat.

»Und sehen Sie, was das heißt, wenn ich langsam aber sicher mir die Aktienmehrheit von dem oder jenem Unternehmen erwerbe, wenn ich nach und nach die Kohleversorgung Italiens immer mehr an mich bringe, wenn ich in Schweden oder Spanien wegen der notwendigen Erze unauffällig Fuß fasse, ja mich in der Normandie festsetze – lassen sie noch drei oder vier Jahre ruhigen Frieden sein, und Deutschland ist der unbestrittene wirtschaftliche Herr Europas. … Also drei oder vier Jahre Frieden, und ich, ich sichere die deutsche Vorherrschaft in Europa im Stillen.«3

Das ist in etwa das Konzept, mit dem Deutschland heute die EU dominiert. Da stellt man sich natürlich die Frage, warum wurde dieser Weg abgebrochen und auf Krieg gesetzt?

Auffassungen wie die von Stinnes wurden in Deutschland nur von einer Minderheit vertreten. Das heißt aber nicht, dass sie falsch waren, auch wenn Stinnes sich mit Kriegsbeginn zum Annexionisten wandelte. Dass imperialistische Länder untereinander nicht unbedingt auf Krieg setzen, zeigt das Verhalten von Frankreich und Großbritannien. Sie begannen schon im 19. Jahrhundert nicht mehr direkt aufeinander zu schießen. Der letzte Zusammenstoß zwischen französischen und britischen Truppen fand 1815 in Waterloo statt. Für die Zeit danach wird von “Kolonialspannungen” berichtet. Doch sie ließen diese Gegensätze nie zu einem Waffengang eskalieren. Auch die Ablösung Großbritanniens als führende Weltmacht durch die USA verlief ohne militärische Auseinandersetzungen zwischen ihnen.

Der Blick auf diese Länder stellt die Frage noch eindringlicher in den Raum. Warum ist das aufstrebende Deutsche Reich in diesen Krieg gezogen? Aufgrund seines wirtschaftlichen Erfolges kann es dafür keine ökonomische Erklärung geben.

Eine neue Antwort auf diese Frage gibt Heiner Karuscheit in seiner Arbeit Deutschland 1914. Vom Klassenkompromiss zum Krieg. Dort stellt er die These auf, dass Deutschlands Drang nach einem Waffengang “sich nicht aus der Außenpolitik, sondern aus der inneren Lage des Reichs”4 ergab. Mit der inneren Lage des Reichs meint er nicht die Verwertungsinteressen des Kapitals, sondern das Verhältnis zwischen den Klassen.

 

Karuscheits Argumente

Die Beweisführung für diese These beginnt mit der gescheiterten Revolution von 1848. Nach der Niederlage der Revolutionäre waren die sie antreibenden Gründe nicht aus der Welt. Weder war man der deutschen Einheit, der Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsgebietes, näher gekommen, noch war Preußen demokratisch.

Die Reichsgründung von 1871 basierte auf einem “Klassenkompromiss zwischen der preußischen Krone und dem Militäradel auf der einen, dem Bürgertum auf der anderen Seite”.5 Dabei realisierte Bismarck die nationalen Träume der Bürgerlichen, während diese auf die Demokratisierung des Landes verzichteten.

Mit diesem Kompromiss wurde die führende Rolle des Adel in der Gesellschaft nicht angetastet. Das zeigt die Sonderrolle des Staates Preußen im Deutschen Reich. Durch das preußische Dreiklassenwahlrecht war sicher gestellt, dass hier immer die Konservativen und ihre Verbündeten die Mehrheit stellten. Dazu gesellte sich die außerparlamentarische Stellung der Armee. Sie befand sich in der Hand des Adels. Damit konnte gegen diese Klasse keine Politik gemacht werden. Frei nach dem Diktum des NSDAP-Mitglieds Carl Schmitt, “Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet”, war der Militäradel gewissermaßen der Souverän des Deutschen Reiches. Deshalb handelte es sich bei diesem Staat auch nicht um einen bürgerlichen Staat.

Dieser Kompromiss war von bürgerlicher Seite nur als zeitweiliges Zugeständnis gedacht. Doch das Entstehen der Arbeiterbewegung verliehen ihm Dauer. Er verwandelte sich von einer undemokratischen Last in eine Versicherung gegen die Revolution.

Das änderte sich mit der Zeit. Die Arbeiterbewegung wurde in einem langen Prozess in den preußisch-deutschen Staat integriert. Das bezeichnet Karuscheit in Deutschland 1914 noch als Verbürgerlichung, in einer Fußnote in Der deutsche Rassenstaat korrigiert er sich. Die weitergehende Beschäftigung mit dem Thema hat ihn zu der Auffassung geführt, “dass die Anpassung an den Staat, dem Charakter des Kaiserreichs entsprechend, nicht die Verbürgerlichung, sondern die Verpreußung der SPD zur Folge hatte.”6 Durch die Verpreußung der Arbeiterbewegung gewann das Bürgertum Handlungsfreiheit.

Das entfaltete nach 1909 seine Wirkung. In diesem Jahr zwang die finanzielle Situation des Staates den Reichskanzler zu einer Steuerreform. Da ihre Notwendigkeit eine Folge des Schlachtflottenbaus war, wurde sie von allen liberalen Strömungen getragen. Doch das Gesetz enthielt auch eine geringfügige Besteuerung der Landgüter. Das lehnten die Konservativen rigoros ab. Der Vorschlag scheiterte und damit “brach das ganze System der Sammlungspolitik auseinander, das Bismarck zur Stabilisierung der alten Ordnung etabliert hatte, und anschließend barsten wie in einer Kettenreaktion die Stützpfeiler dieser Ordnung einer nach dem anderen, bis am Ende der Gesellschaftsvertrag, der das Reich jahrzehntelang zusammengehalten hatte, in Trümmern lag.”7

Nachdem sich die gesellschaftlichen Kräfte neu sortiert hatten, stand “die alte Ordnung und mit ihr der Militäradel vor dem Aus. Das Nächstliegende, um dem Untergang zu begegnen, wäre ein Staatsstreich gewesen.”8 Das wurde auch versucht, scheiterte aber “weil weder (der Reichskanzler, E.B.) Bethmann Hollweg noch Wilhelm II. dafür zu gewinnen waren.”9

“Wenn aber ein Staatsstreich nicht möglich war, blieb nur der Umweg über einen Krieg. Ein neuer Krieg würde demonstrieren, dass nicht das Parlament, sondern das Heer Deutschlands Stärke garantierte, und dass es der Militäradel war, der für den Erfolg verantwortlich zeichnete. Nach dem erwarteten Sieg konnte man sowohl das Wahlrecht als auch die Rechte des Parlaments beschneiden, um so die alten Autoritäten und Machtverhältnisse auf unabsehbare Zeit neu zu befestigen.”10

So ist es gekommen. Der Krieg schuf die Bedingungen für die Errichtung einer Militärdiktatur “und selbst dann wurden Regierung und Kaiser formal im Amt gelassen, um die Fassade aufrechtzuerhalten”.11 Daher ist für Karuscheit der Erste Weltkrieg ein Krieg zur Aufrechterhaltung der alten Ordnung. Er lässt sich nicht mit Lenins Imperialismustheorie erklären, die die Basis des Zitats aus der DDR bildet. Mit Lenins Ausführungen hat sich Karuscheit in einem späteren Aufsatz separat beschäftigt.12

Diese Erkenntnisse sind starker Tobak für alle Sozialisten und Kommunisten, die einmal gelernt haben, dass der Grund für den Ersten Weltkrieg im Expansionsstreben des Kapitals liegt. Starker Tobak auch deshalb, weil damit die Basis einer ganzen Reihe von weiteren linken Auffassungen in sich zusammenfällt.

 

Karuscheits Thesen im Vergleich

Die neueren Bücher zum Ersten Weltkrieg sind meist, wie auch das seine, im Umfeld des 100. Jahrestages seines Anfangs erschienen. Das liegt gute zehn Jahre zurück. Am bekanntesten ist das Werk “Die Schlafwandler” von Christopher Clark. Dieses und die ähnlich argumentierender Autoren werden hier ignoriert. Sie sind mehr Propaganda als ernsthafte Beiträge zur Debatte.

In einer tatsächlich aktuellen Veröffentlichung13 von 2023 legt der Historiker Bernhard Sauer nüchtern die historischen Fakten auf den Tisch. Doch die Frage, warum die herrschende Klasse Preußens den Krieg wollte, stellt er nicht. Das ist seltsam. Er sollte von Karuscheit gehört haben. Beiträge von beiden finden sich in einem Buch des VSA-Verlags zur Novemberrevolution.14 Sauer referiert in seinem Buch das Septemberprogramm, in dem die Kriegsziele des Reichs festgehalten wurden. Wie er schreibt, wurde mit der Arbeit an diesem Text aber erst nach Kriegsbeginn begonnen.15

Damit bestätigt er Karuscheits Aussage, dass Deutschland als Staat ohne Kriegsziele in den Kampf gezogen ist. Ein Fakt, der innenpolitische Gründe nahe legt. Doch Sauer weist, richtigerweise, auf die weitreichenden Eroberungsforderungen des Alldeutschen Verbandes und der Schwerindustrie hin. Diese wurden schon in früheren Jahren erhoben und sollten “auch mit den Mitteln des Krieges verwirklicht werden”.16 Damit schlägt er sich indirekt auf die Seite derer, die den Krieg auf ökonomische Ursachen zurückführen. Die möglichen innenpolitischen Gründe für den Krieg fallen unter den Tisch.

Manchmal hat man bei Auseinandersetzungen über historische Fragen den Eindruck, - nicht nur in Deutschland -, dass hinsichtlich der eigenen Geschichte Scheinkämpfe geführt werden. Die sich streitenden Parteien diskutieren Aspekte, die nicht zur Erklärung eines Ereignisses beitragen. So werden wichtige Fragestellungen verdrängt und damit auch die fortbestehenden Gründe, die die Gesellschaft in eine Katastrophe geführt haben.

In Deutschland geschieht das beim Streit zwischen den “Schlafwandlern” und den “Imperialisten”. Damit geraten die innenpolitischen Verhältnisse aus dem Blick. Dazu gehören auch die vergebenen Möglichkeiten, den Weg in den Krieg zu erschweren. Das kann für heute bedeutsam sein. In weiteren Arbeiten Karuscheits, aber auch anderer Autoren, wird eine SPD sichtbar, die sich öffentlich gegen den Militarismus wandte. Aber durch ihr reales Handeln hat sie ihn mitgetragen. Da fallen einem sofort Parallelen zur Linkspartei ein. Verbal ist man gegen die immensen Aufrüstungsprogramme, aber ihre Vertreter im Bundesrat stimmen der dazu notwendigen Verfassungsänderung zu. Irgendwelche Parteistrafen wurden gegen diese “Genossen” bisher nicht verhängt.

Wie eine tabulose Diskussion zum Ersten Weltkrieg aussieht, zeigt eine Schrift aus der Schweiz. Darin hat der Historiker Ignaz Miller einen unbefangenen Blick auf die Zustände im Kaiserreich geworfen.

Er macht hinter Deutschlands Kriegsentscheidung drei Faktoren aus, “Überrüstung, Überschuldung und Übermut”17. Polemisch kann man Millers Position so zusammenfassen, dass Deutschland mit dem Krieg Frankreich zu einer Kriegsentschädigung zwingen wollte, um damit die enorme Staatsverschuldung abzubauen. Das ist ein monetärer Grund, dem ein innenpolitisches Motiv zu Grunde liegt.

Zur Begründung des “Übermuts” führt er einen ganzen Strauß an Gründen an, die zu einer “spezifischen Mentalität”18 Deutschlands gehören. Darunter die mangelnde Fähigkeit, Kräfteverhältnisse realistisch einschätzen zu können. Miller hält das für ein historisches Problem, da “der europäische Fortschritt unverkennbar”19 sei. Trotzdem kommt er immer wieder auch auf die Gegenwart zu sprechen, wo er im deutschen Verhalten während der Eurokrise Restbestände dieses Denkens findet.

Unterschiedliche Erklärungsansätze gibt es bei ihm nicht. Er zitiert einfach alle Quellen. Darunter auch diese: “Die im Reichstag von den Konservativen repräsentierten Junker wollen um jeden Preis eine Erbschaftssteuer vermeiden. Wenn der Friede anhält, ist sie unvermeidlich. Der Reichstag hat sie in seiner letzten Sitzung der abgelaufenen Session grundsätzlich beschlossen. Sie ist ein schwerer Schlag für die Interessen und Privilegien des grundbesitzenden Adels. Auf der anderen Seite bildet dieser Adel eine militärische Aristokratie. Es ist aufschlussreich, die Rangliste der [königlich preussischen] Armee mit dem Gotha zu vergleichen. Einzig ein Krieg kann sein Prestige wahren und seinen Familieninteressen dienen […]. Das Grossbürgertum […] hat nicht dieselben Gründe wie die Junker, einen Krieg zu wollen. Bis auf einige Ausnahmen ist es jedoch kriegsgestimmt. Aus Gründen der sozialen Ordnung […]. Die Waffen- und Rüstungsfabrikanten, die Grosskaufleute, die grössere Märkte verlangen, die Bankiers, die auf ein golde­nes Zeitalter spekulieren und eine nächste Kriegsentschädigung, denken schliesslich, dass der Krieg ein gutes Geschäft sei.”20

Unwillkürlich vermutet man hier Karuscheit als Autor. Doch das Zitat stammt aus einem Bericht an den damaligen französischen Außenminister, Stéphen Pichon, über die öffentliche Meinung in Deutschland. Er basiert auf den Mitteilungen der Konsulate und Botschaften in den einzelnen Staaten, die das Kaiserreich bildeten. Als Datum wird der 30. Juli 1913 angegeben. Ein Jahr vor Kriegsbeginn! Miller gibt als Quelle ein Livre Jaune an. Das ist eine Edition21 diplomatischer Berichte, mit der man der deutschen Propaganda entgegengetreten ist.

 

Die Reaktionen auf Karuscheits Thesen

Eine Internetrecherche zu seinem Buch bringt wenige Treffer. Am interessantesten ist die Besprechung des Berliner Historikers Henning Holsten im Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung22. Zur Einordnung dieser Publikation sei vermerkt, dass die entsprechende Ausgabe einen Druckkostenzuschuss von der Rosa-Luxemburg-Stiftung erhalten hat.

Holsten beschäftigt sich eingehend mit Deutschland 1914 und ordnet die Untersuchung in die Debatten zum 100. Jahrestags des Kriegsbeginns ein. “Entgegen dem Bild „schlafwandelnder“ Diplomaten, die blind und ahnungslos in die Katastrophe stolperten, beharrt der Publizist Heiner Karuscheit in seinem … Buch auf den grundlegenden Erkenntnissen der Fischer-Schule, die sich in den 1970er-Jahren sozialgeschichtlich erweitert zum Paradigma vom „deutschen Sonderweg“ verdichteten und seither die historiografischen Debatten um die Modernität bzw. Rückständigkeit des wilhelminischen Kaiserreiches bestimmen. Ausgehend vom „Primat der Innenpolitik“ (Eckart Kehr) sucht er die Ursachen des Krieges nicht in der Konkurrenz der Großmächte, sondern in den Klassenkonflikten innerhalb des Deutschen Reiches. Dabei löst sich K., langjähriger Mitherausgeber der kommunistischen „Aufsätze zur Diskussion“, weitgehend von den marxistisch-leninistischen Dogmen seiner früheren politischen Publizistik.”

Nach einer Beschreibung des Inhalts stellt Holsten die Frage: “War es auf der anderen Seite wirklich nur eine kleine „preußische Herrschaftskaste“, die das Deutsche Reich und ganz Europa aus innenpolitischen Machterhaltungsmotiven in die Katastrophe des Weltkrieges trieb? K. erwähnt selbst, dass es auch innerhalb der progressiven Parteien Kräfte gab, die sich vom Krieg eine klassenpolitische Machtverschiebung zu ihren Gunsten versprachen. Militarismus, nationales Prestigedenken und ein sozialdarwinistisches Politikverständnis waren in der wilhelminischen Öffentlichkeit weit über konservative Kreise hinaus verbreitet – und hatten ihre Entsprechungen in fast allen europäischen Ländern. Medien- und kulturgeschichtliche Dynamiken, wie sie seit bald 20 Jahren die „Neue Politikgeschichte“ in den Fokus nimmt, fehlen bei K. jedoch vollständig. So kommt er in seiner pointierten Zusammenfassung der Sonderwegsthese im Grunde auch nicht über die Erkenntnisse von Fritz Fischer, Hans-Ulrich Wehler und Dieter Groh hinaus. Als linke Gegenposition zum aktuellen diplomatiegeschichtlichen Revisionismus, der die Forschungsergebnisse der alten „Kehr-Schule“ oft nicht widerlegt, sondern einfach nur ignoriert, hat die Studie deshalb durchaus ihren Wert. Doch neues Licht auf den deutschen „Sprung ins Dunkle“ (Bethmann Hollweg) im Juli 1914 wirft sie nicht.”

Eckart Kehr war ein deutscher Historiker. Er promovierte 1927 mit einer Arbeit über Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894–1901. Dort vertrat er die Position, dass die Außenpolitik der damaligen Zeit hauptsächlich durch die Gegensätze zwischen Junkertum und Bourgeoisie im Inland beeinflusst worden sind. Kehr gilt als von Max Weber und Karl Marx beeinflusst, gehörte aber nicht zum kommunistischen Milieu der Weimarer Republik. Trotzdem meinte der Historiker Gerhard Ritter 1931: “Dieser Herr sollte sich, scheint es mir, lieber gleich in Rußland als in Königsberg habilitieren. Denn da gehört er natürlich hin: einer der für unsere Historie ganz gefährlichen ‚Edelbolschewisten‘.”23

Holsten ordnet Karuscheit in eine Traditionslinie der deutschen Geschichtswissenschaft ein. Diese war einem bis heute unbekannt. Warum? Haben die Vertreter der in Deutschland dominierenden Thesen den öffentlichen Raum derart besetzt, dass daneben kein Platz für die “Kehr-Schule” geblieben ist? Oder war man selber so stark im ökonomistischen Denken gefangen, dass man die Hinweise darauf nicht wahrgenommen hat? Aus Sicht der Geschichtswissenschaft mag Holsten recht haben, dass Karuscheits Studie kein “neues Licht auf den deutschen Sprung ins Dunkle” wirft. Für die sozialistisch-kommunistische Bewegung trifft das aber nicht zu.

Das zeigt eine Kurzrezension in der Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung. Darin schreibt der inzwischen verstorbene Historiker Reiner Zilkenat: Der Autor “… gelangt schließlich zu der Anschauung, dass der Steuerkonflikt zwischen den im „Bülowblock“ agierenden Nationalliberalen, Linksliberalen und Konservativen im Jahre 1909 einen irreparablen Bruch des Bündnisses zwischen Adel und Bourgeoisie bedeutete. Neues hat Karuscheit bei alledem kaum zu bieten; seine Darstellung ist aber eine außerordentlich nützliche und detailreiche Zusammenfassung dessen, was zu dieser Thematik in Handbüchern und Standardwerken nachlesbar ist.”24

Zilkenat teilt also Karuscheits Darstellung der Entwicklung bis zum Jahr 1909. Doch für die Zeit danach wirft er ihm vor: “Im Gegensatz zu dieser aus durchsichtigen Motiven verbreiteten Auffassung (Man ist in den Krieg hineingeschlittert. EB) hatte die Kriegspartei in Berlin, … , seit Jahren zielgerichtet darauf hingearbeitet, die erste sich bietende Chance zu nutzen, um die außenpolitischen Ziele – im Minimum ein von Deutschland dominiertes „Mitteleuropa“ und ein groß dimensioniertes Kolonialreich in Afrika – mit kriegerischen Mitteln zu realisieren. Dabei schreckte man vor einem Präventivkrieg nicht zurück. Der Autor kennt offenbar nicht die einschlägigen Quellen oder blendet sie aus, weil sie seinen Thesen widersprechen.” Das überrascht, weist Karuscheit doch auf diese Papiere hin.25 Der Unterschied zwischen den beiden liegt nicht in den genutzten Quellen, sondern in deren Interpretation. Auf die Argumente Karuscheits geht Zilkenat aber nicht ein.

Nicht alle mit der DDR verbundenen Historiker verweigern sich neuen Erkenntnissen. So hat der aus einer antifaschistischen Familie stammende Werner Röhr Karuscheit zwar nicht rezensiert, aber seine Interpretation der Fakten weitgehend übernommen. Das hat er im seinem Buch Hundert Jahre deutsche Kriegsschulddebatte.26 versteckt. Bei den Recherchen zu diesem Text ist man im Archiv der jungen Welt27 zufällig darüber gestolpert. Sie hat das maßgebliche Kapitel als Vorabdruck veröffentlicht.

 

Resümee

Es findet sich kein Historiker, der Widerspruch gegen Karuscheits Untersuchung angemeldet hat. Dagegen werden viele Quellen beigebracht, die seine Sicht untermauern. Überraschend ist Karuscheits Zuordnung zu einer in der Weimarer Republik entstandenen geschichtswissenschaftlichen Strömung. Verblüfft ist man auch über den Text aus Frankreich. Schaut wirklich kein bundesdeutscher Historiker über den Rhein? Oder machen sie es doch und behalten ihre Erkenntnisse für sich, um nicht negativ aufzufallen?

Es ist sicher richtig, dass Karuscheit keine neuen Fakten vorzuweisen hat. Er ist aber wohl der erste, der aufzeigt, wie die Veränderungen innerhalb und zwischen den Klassen das Deutschen Reich in den Krieg geführt haben. Seine Untersuchung scheint die erste Klassenanalyse im deutschsprachigen Raum zum Ersten Weltkrieg zu sein. Man kann sie nur uneingeschränkt zum Lesen empfehlen.

Emil Berger

1 Deutscher Schriftsteller und Journalist, am Ende der NS-Diktatur Mitarbeit im Widerstand und aufgrund dessen im KZ inhaftiert. Nach dem Krieg Mitglied der SPD.

2 Geschichte. Lehrbuch für Klasse 8. Berlin 1975, S. 178

3 junge Welt, 10.04.2014, S. 10; Kaiser von Deutschland. Wozu brauche ich Krieg, dachte Hugo Stinnes 1911, die Welt liegt mir zu Füßen. Doch drei Jahre später ließ er sich vom Nutzen des großen Mordens überzeugen.

4 Karuscheit, Heiner; Deutschland 1914. Vom Klassenkompromiss zum Krieg. Hamburg 2014, S.243

5 Ebd. S.37

6 Karuscheit, Heiner; Der deutsche Rassenstaat. Volksgemeinschaft & Siedlungskrieg: NS-Deutschland 1933-1945. Hamburg 2025, S. 23

7 Karuscheit 2014, S. 182

8 Ebd. S.210

9 Ebd.

10 Ebd. S.211

11 Ebd. S.210

12 “Kriegsfragen. Warum der Erste Weltkrieg nicht mit Lenins Imperialismustheorie zu erklären ist” in: H. Karuscheit, J. Wegner, K. Werneke, J. Wollenberg; “Macht und Krieg. Hegemoniekonstellationen und Erster Weltkrieg”, Hamburg 2015

13 Sauer, Bernhard; Der Erste Weltkrieg - ein Verteidigungskrieg? Berlin 2023

14 Karuscheit, Heiner; Sauer, Bernhard; Wernecke, Klaus; Vom »Kriegssozialismus« zur Novemberrevolution. Hamburg 2018

15 Sauer 2023, S. 37

16 Ebd.

17 Miller, Ignaz; Mit vollem Risiko in den Krieg. S. 12, Zürich 2014

18 Ebd. S. 13

19 Ebd. S. 161

20 Ebd. S.71

21Les pourparlers diplomatiques (17 mars 1913-4 septembre 1914) X Le livre jaune français. Paris/Nancy 1915

22 https://library.fes.de/jbzg/jbzg2014_2.pdf

23 Zitiert nach Hans-Ulrich Wehler: Eckart Kehr. In: ders. (Hrsg.): Deutsche Historiker. Bd. 1. Göttingen 1971, S. 100

24 https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/de/article/1250.marx-und-die-neuen-themen.html

25 Karuscheit 2014, S. 211 und 212

26 Röhr, Werner; “Hundert Jahre deutsche Kriegsschulddebatte. Vom Weißbuch 1914 zum heutigen Geschichtsrevisionismus.” Hamburg 2015

27 junge Welt vom 16.06.2015, S. 12, “Brüchiger Machtblock”

  • Geschichte

Starmers Labour, ein Neues Projekt

 

Nach 14 Jahren Tory-Herrschaft und vier Premierministern, die einen Sparkurs durchsetzten, kam Labour im Juli 2024 mit sehr großer Mehrheit an die Regierung zurück. Die Tories befanden sich mehrere Jahre in einer Krise. Gegen Ende waren sie in vielleicht ein Dutzend verschiedene Fraktionen oder Cliquen zersplittert um jeweils eine Person, die sich verzweifelt bemühte, Parteiführer zu werden. Jede von ihnen versuchte, noch weiter rechts als die anderen zu erscheinen, um auf die Parteimitglieder Eindruck zu machen.

Der NHS (Nationaler Gesundheitsdienst) befand sich in der Krise. Die Menschen mussten warten, bis sie für eine geplante Operation oder einen Notfall ins Krankenhaus konnten. Das Eisenbahnnetz litt unter Verspätungen und dem Ausfall ganzer Züge. Eine Anzahl der privatisierten Gesellschaften wurden renationalisiert, um den Service zu verbessern. Es haperte am Bau neuer Wohnungen, wobei die Baukosten sehr hoch waren. Ein Drittel der Kinder leben in Armut. Die Tories hatten die finanzielle Unterstützung, die jede Familie für jedes Kind erhielt, auf zwei Kinder pro Familie beschränkt. Für alle weiteren Kinder gab es keine Unterstützung mehr.

Die neue Labour-Regierung kündigte eine ganze Reihe von Einschnitten im Sozialbereich an: Die Behinderten wurden getroffen von der Streichung der Unterstützung; die von den Tories eingeführte Begrenzung des Kindergeldes auf zwei Kinder pro Familie wurde beibehalten. Die „Winter Fuel Allowance“ (um die Rechnungen für Gas und/oder Strom bezahlen zu können und es warm zu haben) sollten zukünftig nur noch Rentner mit der niedrigsten gesetzlichen Rente erhalten. Diejenigen, die etwas mehr bekommen, z.B. aus einer weiteren Rente, sollten diese Winterhilfe nicht mehr erhalten. Diese Maßnahme verursachte sehr viel Ärger, nicht nur bei denjenigen, die diese Beihilfe bis jetzt erhielten, sondern auch bei Parlamentsabgeordneten von Labour und zahlreichen Parteimitgliedern. Viele Menschen mussten sich also entscheiden, ob sie es warm haben wollten oder genug zu essen haben. Im Moment schaut es so aus, als ob die „Winter Fuel Allowance“ in Zukunft wieder eingeführt wird. Möglicherweise wird das Kindergeld für ein drittes Kind gewährt. Labour-Abgeordnete sind wütend auf diese Politik. Sie tun ihre Meinung kund und sind bereit, dagegen aufzustehen.

 

Bei den Kommunalwahlen im Mai 2025, die in einigen Teilen des Landes stattfanden, - nicht überall -, schnitten sowohl Labour als auch die Tories sehr schlecht ab. Es standen Stadträte, Kreisräte und Bürgermeister zur Wahl. Reform UK, die populistische Partei, die ursprünglich von Nigel Farrage geführt wurde, dem früheren Führer der Brexit Party und ähnlicher Organisationen, erhielt 30% der abgegebenen Stimmen. Sie kontrolliert jetzt zehn County Councils und stellt zwei Bürgermeister. Die Tories erzielten das schlechteste Ergebnis, das sie jemals hatten. Sie gewannen nur 17%, während Labour 22% erhielt, die Liberaldemokraten 15% und die Grünen 10%. Die beiden letzteren Parteien erhielten Stimmen von unzufriedenen Labour-Wählern.

Es herrscht große Unzufriedenheit unter Labour-Abgeordneten; nicht nur unter Linken, die es geschafft haben, die Säuberungsaktionen durch Starmers Apparat zu überstehen oder die suspendiert wurden wegen ihres Kampfes gegen Starmers Politik im Hinblick auf den Krieg in Gaza (ursprünglich unterstützte er Israels Blockade von Energie und Wasser nach Gaza, aber später änderte er seinen Standpunkt). Bei den Parlamentswahlen vertraten einige Kandidaten Labours eine andere Position als die Parteilinie und wurden infolge dessen wegen der Gaza-Frage gewählt. Einige Labour-Abgeordnete, die die Palästinenser unterstützen, wurden wiedergewählt, sogar der ausgeschlossene Jeremy Corbyn, der beliebt bleibt. John McDonald, der Corbyn nahesteht, ist immer noch von der Partei suspendiert. Er fordert Starmer heraus.

Die 2024 gewählten Abgeordneten von Labour sind vielfach unzufrieden mit Starmers Kurs. Die Ergebnisse der Kommunalwahlen 2025 und die Meinungen, die von Wählern während des Wahlkampfs geäußert wurden, zeigen ihnen, dass sie das nächste Mal nicht wiedergewählt werden. Angela Rayner, die gewählte stellvertretende Parteivorsitzende von Labour, machte ein Memo an die Finanzministerin Rachel Reeves publik, in welchem sie eine Steuer für Bankprofite verlangt. Ihre Auffassung wurde zwar zurückgewiesen, aber es wurde der Verdacht geäußert, das sei ein Schritt in die Richtung, dass sie Starmer ablösen wolle.

Starmer machte nicht nur Einschnitte im Sozialbereich; er hat Auslandshilfen gekürzt, die Rüstungsausgaben aber erhöht. Er erzeugt eine Stimmung, als ob in naher Zukunft ein Krieg mit Russland anstehe. Er hat einen Kreis von sehr weit rechts stehenden Leuten um sich, noch rechter als die Ex-Blair-Anhänger um ihn. Während Blair nur den Einfluss der Gewerkschaften minimieren wollte, um Labour in eine Partei der Mitte verwandeln, scheinen einige von denen, die mit Starmer verbunden sind, zu wollen, dass Labour sich in einen Ersatz für die Tory Party verwandelt.

 

m.j. (5/6/25)

Leserbrief

Leserbrief zur linksradikalen Politik der KPD

In der Ausgabe der Arsti Nr.226 vom Winter 2024 „Das Verhängnis einer ultralinken Politik unter vorrevolutionären Bedingungen am Beispiel der KPD 1919-1933“ hat Harald Jentsch sich kenntnisreich mit der linksradikalen Politik der KPD auseinandergesetzt. Der Kritik kann man im Wesentlichen nur zustimmen, doch meine ich, dass sie noch einen Schritt weiter gehen müsste. Warum?

Die zentrale Frage zur Bewertung der KPD-Politik lautet nach meinem Dafürhalten, ob die Revolution, die nach dem Weltkrieg auf die Tagesordnung trat, dem Wesen nach eine proletarisch-sozialistische oder eine bürgerlich-demokratische Revolution war. Für die Spartakusgruppe und die aus ihr hervorgehende KPD war dies keine Frage, sie kämpfte als nächstes Ziel für eine sozialistische Revolution. Das von Rosa Luxemburg verfasste „Oktoberprogramm“ der Spartakus-Gruppe propagierte als Aufgabe des Tages die Errichtung der Diktatur des Proletariats, ebenso das mit dem „Oktoberprogramm“ weitgehend identische Gründungsprogramm der KPD vom 30. Dezember 1918.

Darin wurde mit Blick auf den Übergang zum Sozialismus u.a. die „Enteignung des Grund und Bodens aller landwirtschaftlichen Groß- und Mittelbetriebe“ zwecks „Bildung sozialistischer landwirtschaftlicher Genossenschaften“ gefordert; nur „bäuerliche Kleinbetriebe“ sollten davon ausgenommen werden. Das heißt, Spartakus/KPD forderten nicht nur die Enteignung des Großgrundbesitzes, sondern der Masse der Bauernschaft. Eine solche Forderung musste das gesamte Kleinbürgertum, d.h. mehr als der Hälfte der Bevölkerung, zum Gegner der revolutionären Arbeiterbewegung machen. Dieses Revolutionsprogramm fand auch im Proletariat selber keine Mehrheit; die Spartakusgruppe war in der Rätebewegung isoliert.

Um die Novemberrevolution zum Erfolg zu führen, wäre das Konzept einer vom Proletariat geführten demokratischen Revolution im Bündnis mit dem Kleinbürgertum notwendig gewesen; erst deren Erfolg konnte den Weg zum Sozialismus frei machen. Es gab in der Vorkriegs-SPD auch immer wieder Diskussionen über das Verhältnis von demokratischem und sozialistischem Kampf sowie die Frage des Kleinbürgertums. Doch keine dieser Debatten wurde zu Ende geführt. Mit dem Revolutionsprogramm Luxemburgs war der revolutionäre Flügel der Arbeiterbewegung jedenfalls zum Scheitern verurteilt.

Daran schließt sich eine weitere Frage an, die in einem Leserbrief nur angerissen werden kann. Gemeinhin gilt die Novemberrevolution als gescheiterte sozialistische Revolution. Aber muss sie nicht richtigerweise als gescheiterte bürgerliche Revolution gewertet werden?

Denn was war ihr Ergebnis anderes als eine nicht lebensfähige Republik, die aus einer von der SPD-Führung im Bündnis mit der preußischen Obersten Heeresleitung organisierten Konterrevolution gegen die Novemberrevolution hervorging (Ebert-Groener-Pakt)?

Es gab keine soziale Umwälzung, denn weder wurde der Großgrundbesitz enteignet noch Großindustrie und die Banken (deren Verstaatlichung einen späteren Übergang zum Sozialismus ermöglicht hätte). Erst recht nicht wurde der preußisch-deutsche Obrigkeitsstaat zerschlagen und neue demokratische Strukturen aufgebaut (was die Rätebewegung in Angriff genommen hatte). Insbesondere behielt der junkerliche Militäradel die Herrschaft über die Streitkräfte, das entscheidende innenpolitische Machtinstrument. Real war die Republik nicht mehr als ein Überwurf ohne eigene Basis über den fortbestehenden gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen der alten Ordnung.

Wenn man die Novemberrevolution aber als gescheiterte bürgerliche Revolution begreift – liegt hier nicht ein Schlüssel für den Aufstieg des Nationalsozialismus, der sich als Gegenbewegung nicht nur gegen „1917“ verstand, sondern auch gegen „1789“, d.h. gegen die zivilisatorischen Errungenschaften der bürgerlichen Revolution?

Gegenwärtig wird erneut der „Kampf gegen rechts“ gefordert, bis hin zur Warnung vor einem neuen Faschismus. Um derartige Forderungen richtig einzuordnen, würde es sich m.E. lohnen, wenn die Kommunisten die Fragen, die am Anfang ihrer Bewegung nach dem Ersten Weltkrieg aufgeworfen wurden, noch einmal reflektieren würden, auch wenn das heißt, scheinbar sichere alte Gewissheiten auf den Prüfstand zu stellen.

Heiner Karuscheit, Gelsenkirchen, 5.Mai 2025

 

Oxfams Ungleichheitsbericht und die Macht der Milliardäre

 

Zum Weltwirtschaftsforum in Davos veröffentlicht Oxfam bereits seit Jahren den großen Ungleichheitsbericht, den Bericht über die Verteilung von Reichtum in der Welt. Der aktuelle Bericht „Milliardärsmacht beschränken, Demokratie schützen“ zeigt, wie der Einfluss von Superreichen die soziale Ungleichheit immer weiter verschärft und demokratische Prinzipien in ihren Grundfesten erschüttert. Doch zuerst ein Blick auf die Schattenseite des Reichtums.

(Die Zitate stammen, fall nicht anders gekennzeichnet, aus dem Bericht von Oxfam)

 

„Reicher Mann und armer Mann

standen da und sah’n sich an.

Und der Arme sagte bleich:

Wär’ ich nicht arm, wärst Du nicht reich.“

(Bertolt Brecht)



Die Kehrseite des Reichtums: Wärn wir nicht arm …

Die Zahl der Menschen, die unter der erweiterten Armutsgrenze der Weltbank von 6,85 US-Dollar leben, ist seit 1990 unverändert bei fast 3,6 Milliarden geblieben. Das entspricht aktuell 44 Prozent der Menschheit. Frauen sind besonders von Armut betroffen. Weltweit müssen 733 Millionen Menschen infolge von Armut hungern – etwa 152 Millionen mehr als 2019.

Viele Länder stehen vor dem Bankrott, sind durch Schulden gelähmt und haben nicht die finanziellen Mittel, um Armut und Ungleichheit zu reduzieren. Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen geben im Durchschnitt 48 Prozent ihres Haushalts für die Rückzahlung von Schulden aus. Das ist weit mehr, als sie für Bildung und Gesundheit zusammen aufwenden. Die Situation ist für diese Länder besonders schwierig, aber auch darüber hinaus zeichnet sich ein besorgniserregendes Bild ab, wie Oxfam in seinem jüngst veröffentlichten Commitment to Reducing Inequality Index, einer Ungleichheitsanalyse von 164 Ländern, zeigt: Vier von fünf Ländern weltweit haben in den letzten von Krisen geprägten Jahren den Anteil im Staatshaushalt für Bildung, Gesundheit und soziale Sicherung gekürzt; vier von fünf haben Rückschritte bei der Steuerprogression und neun von zehn bei Arbeitsrechten und Mindestlöhnen gemacht. Insgesamt sind neun von zehn Ländern in einem oder mehreren dieser drei Bereiche zurückgefallen. Ohne sofortige politische Maßnahmen zur Umkehrung dieses Trends wird daher die Ungleichheit in 90 Prozent der untersuchten Länder mit großer Sicherheit weiter zunehmen. Der ohnehin schon immense Druck auf die politische Stabilität würde damit noch größer – und damit auch die Gefahr für die Demokratie.

 

Die andere Seite: … wärt ihr nicht reich

Oxfam wurde schon des Öfteren in konservativ-bürgerlichen Medien unterstellt, dass ihre Beschäftigung mit den Reichen zunehmend obsessive Züge angenommen habe. In wessen Händen die Medien wohl sein mögen?

Weltweit ist im Jahr 2024 das Gesamtvermögen der Milliardär*innen um zwei Billionen US-Dollar gestiegen. Ihr Vermögen wuchs damit 2024 dreimal schneller als 2023. Das Vermögen eines*einer Milliardär*in vergrößerte sich im Durchschnitt um zwei Millionen US-Dollar pro Tag. Bei den reichsten zehn Milliardären waren es sogar 100 Millionen US-Dollar pro Tag. Selbst wenn diese zehn Milliardäre über Nacht 99 Prozent ihres Vermögens verlieren würden, blieben sie Milliardäre. Im Jahr 2024 kamen insgesamt 204 neue Milliardär*innen hinzu. Dies entspricht durchschnittlich fast vier neuen Milliardär*innen pro Woche. Damit stieg die Zahl der Milliardär*innen gemäß Forbes-Reichenliste auf 2.769.

Die genauen Zahlenangaben der Vermögen sind sicherlich nicht ganz für bare Münze zu nehmen, sie drücken jedoch eine eindeutige Tendenz aus.

 

Und in Deutschland?

Auch in Deutschland hat die Ungleichheit in den letzten Jahren stark zugenommen. Während die reichsten 5 Prozent fast die Hälfte (48 Prozent) des gesamten Vermögens besitzen, ging die gesamte ärmere Hälfte der Bevölkerung nahezu leer aus. Jedes siebte Kind leidet unter der Armut, und immer mehr Menschen können ihren gewohnten Lebensstandard nicht mehr halten. Gleichzeitig gibt es hierzulande 130 Milliardäre – die viertgrößte Anzahl weltweit. Deren Gesamtvermögen ist nach Berechnungen der Oxfam-Studie allein 2024 um 26,8 Milliarden auf umgerechnet 625 Milliarden US-Dollar angewachsen.

Laut Oxfam ist das Gesamtvermögen der fünf reichsten Deutschen seit 2020 inflationsbereinigt um knapp 75 Prozent gewachsen: von etwa 89 auf rund 155 Milliarden US-Dollar.

Wie viele Millionäre und Milliardäre es in Deutschland gibt, weiß man nicht genau; im oberen Vermögensbereich herrscht weitgehend Intransparenz. Während bei dieser Seite der Medaille am liebsten Stillschweigen bewahrt wird, werden dagegen die Bürgergeldempfänger an den Pranger gestellt; pauschal wird ihnen Missbrauch vorgeworfen. Sie werden für die Schieflage des Staatshaushalts verantwortlich gemacht. Deswegen möchte der neue Kanzler, „natürlich“ ein Multimillionär, das Bürgergeld abschaffen.

Während sich der Reichtum weiter konzentriert, fehlt in den öffentlichen Haushalten das Geld für moderne Schulen, gute Pflege, einen handlungsfähigen Sozialstaat und Zukunftsinvestitionen. Allein der staatliche Investitionsbedarf für eine zukunftsfähige Wirtschaft wird von verschiedenen Wirtschaftsinstituten auf etwa 600 Milliarden Euro veranschlagt.

Statt Reichtum zu besteuern, haben Deutschland und viele andere Staaten Verbrauchsteuern wie beispielsweise die Mehrwertsteuer erhöht, die ärmere Menschen stärker belasten als Reiche. Während die arbeitende Bevölkerung hohe Steuersätze zahlen muss – die weltweit mit zu den höchsten gehören –, werden Vermögende von hohen Steuern und Abgaben verschont.

Eine Studie zum Einfluss von Einkommen auf politische Entscheidungen des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung aus dem Jahr 2016 stellt fest, dass die Wünsche und Bedürfnisse von Menschen mit niedrigem Einkommen mit geringerer Wahrscheinlichkeit politisch beachtet und umgesetzt werden als die Interessen der Bessergestellten. Besonders aktiv hervorzuheben sind dabei Lobbyverbände wie „Die Familienunternehmer“ und die „Stiftung Familienunternehmen und Politik“. Hinter den irreführenden Namen stehen zahlreiche Weltkonzerne und Superreiche. Sie gehören zu den einflussreichsten Lobbyverbänden der Republik. Es geht den Stiftungen vor allem darum, Steuern für Vermögende zu verhindern. Mit Märchen wie dem, dass bei Veränderung der Erbschaftssteuer auch das berühmte Häuschen der Oma betroffen wäre, gelingt es der Stiftung seit Jahren, Veränderungen zu verhindern. So profitieren sie massiv von Steuerprivilegien und beteiligen sich nur in geringem Maße am Solidarsystem der Kranken-, Pflege- oder Rentenversicherung. Vermögende werden immer vermögender, während Steuer- und vor allem Beitragssätze für den Großteil der Menschen wachsen.

In der Folge, so heißt es in der Studie, orientiere sich die Politik „noch stärker an den Interessen der Bessergestellten“. Das führe dazu, dass sich viele Menschen vom politischen System abwenden.

Die Steuerprivilegien von Superreichen haben auch gravierende Konsequenzen für die Staatskassen. Weltweit stammen heute rund 44 Prozent der Steuereinnahmen aus Verbrauchssteuern, während die Steuern für Unternehmen nur etwa 14 Prozent und auf Vermögen nur vier Prozent ausmachen.

Deutschland schneidet auch hier im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich ab. Seit dem Aussetzen der Vermögensteuer im Jahr 1997 ist die Erbschaftssteuer die einzige verbliebene Steuer mit Vermögensbezug und trägt weniger als ein Prozent zum gesamten Steueraufkommen bei. Auch das war früher anders: 1950 lag der Anteil von vermögensbezogenen Steuern noch bei zehn Prozent. Allein durch die seit 1997 ausgesetzte Vermögensteuer sind Deutschland bis heute schätzungsweise 400 Milliarden Euro an Steuereinnahmen verloren gegangen. Aktuell würde sie mehr als 30 Milliarden Euro jährlich einbringen. Und das Potenzial ist weitaus größer: Würde Deutschland dem Beispiel der Schweiz folgen und Vermögensteuern auf dem dortigen Niveau erheben, entspräche das jährlichen Einnahmen von 73 Milliarden Euro.

Stattdessen trägt eine durch erhebliche Einflussnahme von Interessengruppen dominierte Steuerpolitik im Interesse der Superreichen dazu bei, die Kluft zwischen Arm und Reich zusehends zu vergrößern.

 

Reichtum und Macht

Reichtum geht Hand in Hand mit politischer Macht, beschreibt der Oxfam-Bericht die Folgen von Ungleichheit für die Demokratie. Die Superreichen sorgen gezielt dafür, dass die ungerechten Strukturen stabil bleiben: Die wirtschaftlich starken Länder im Globalen Norden bestimmen weiterhin die Regeln, von denen Superreiche und ihre Konzerne profitieren. Sie dominieren Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds, die Weltbank sowie die Finanzmärkte. Damit wächst auch ihr Einfluss auf die Steuergesetzgebung. Die Senkung von Unternehmenssteuern, unzureichende Besteuerung von Kapitalerträgen, Ausnahmen bei der Erbschaftssteuer und die Abschaffung von Vermögenssteuern sind die Folge.

 

Oxfams Forderungen an die kommende Bundesregierung

Die zunehmende Macht von Superreichen und Konzernen verschärft die soziale Ungleichheit und ist eine Gefahr für die Demokratie. Um sie einzudämmen, seien entschiedene politische Maßnahmen nötig. Es gilt Superreiche wieder stärker in die gesellschaftliche Verantwortung zu nehmen und sie endlich angemessen zu besteuern. So können die für die Bekämpfung von Armut und Ungleichheit so wichtigen Investitionen in soziale Gerechtigkeit, die Gleichstellung der Geschlechter und den Klimaschutz hier und weltweit gestemmt werden. Unabdingbar ist es zudem, die Marktmacht von Konzernen zu beschränken, um ihren immensen Einfluss und den ihrer Besitzer*innen zurückzudrängen. Wir gehen davon aus, dass keiner dieser Punkte auf der Agenda des Blackrockkanzlers steht.

Oxfam leistet mit seinem jährlichen Reichtumsbericht anlässlich des Weltwirtschaftsforums in Davos einen wichtigen Beitrag dazu, die Ungleichheit der Reichtumsverteilung auf der Welt in das Licht der Öffentlichkeit zu zerren. Der obszöne Reichtum, den Milliardärinnen und Milliardäre jedes Jahr immer schneller anhäufen, bliebe ja sonst ganz im Verborgenen, ganz im Interesse der scheuen Kapital-Rehlein. Auch die Forderungen, die Oxfam stellt, um die Verteilung des Reichtums zu steuern und gerechter zu machen, weisen im Rahmen des bestehenden weltweiten Kapitalismus in die richtige Richtung. Allein, es bleibt die Frage, wie sollen die Forderungen umgesetzt werden, woher soll die Gegenmacht kommen?

Die Arbeiterklasse, die das sein könnte, ist gespalten und hat ihr Klassenbewusstsein verloren, sie ist zurzeit ein Nichts. Die Lebensumstände, verschwundene Solidarität und nicht zuletzt die Macht der Medien, auch der öffentlich-rechtlichen, haben da maßgeblich dazu beigetragen; von den sog. „sozialen“ Medien ganz zu schweigen. Die „sozialen Plattformen“ sind eine wachsende Bedrohung auch für bürgerliche Demokratien, weil sie rechtspopulistische oder extreme Positionen bevorzugen und Wahlen massiv beeinflussen können. In Deutschland hat Musk seine Freunde von der AfD im Wahlkampf unterstützt und ihnen gehörig Schützenhilfe geliefert. Das wird in Zukunft sicherlich zunehmen.

Rechte Parteien finden ihre Anhängerschaft in allen Schichten der Bevölkerung, doch in der Arbeiterschaft stoßen sie auf überdurchschnittlich große Sympathie. Die AfD erhält unter den Gewerkschaftsmitgliedern prozentual mehr Wählerstimmen als in der Gesamtbevölkerung. Und die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder, die AfD gewählt haben, ist auch bei den letzten Bundestagswahlen weiter gewachsen.

Wie die Regierungsbildung in den USA zeigt, gehen die Entwicklungen in eine ganz andere Richtung als von Oxfam angemahnt und für die Weltgesellschaft nötig.

Das Kapital schafft sich den Staat, der ihm die besten Bedingungen zur Profitmaximierung gewährt. Diese Tatsache war vor nicht allzu langer Zeit bis in sozialdemokratische Kreise Allgemeingut. Allerdings hatten sich die Vertreter der Kapitalfraktionen mehr oder weniger dezent im Hintergrund gehalten und die Arbeit ihren Lobbyisten überlassen. Seit Trumps erster Amtszeit änderte sich das grundlegend. Despoten wie Bolsonaro in Brasilien und Milei in Argentinien treten in der Öffentlichkeit unverhohlen mit neoliberalen Programmen auf und werden in die Regierung gewählt; Wähler und Wählerinnen sind von ihrer Lebenssituation und dem Establishment enttäuscht und erhoffen sich Verbesserung. Wie war das nochmal mit dem Bock als Gärtner?

Das Kapital hat sein Klassenbewusstsein nicht verloren. Ein Beispiel ist der Börsenspekulant Warren Buffett, der den Krieg der Reichen gegen die Armen wiederholt benannt hat. Der „New York Times“ sagte er 2006: „Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.“



Schlägt die Quantität des Reichtums in eine neue „Qualität“ der politischen Macht um?

Bei Donald Trumps Amtseinführung saßen die reichsten und mächtigsten Männer der USA in der ersten Reihe. Das veranlasste die Monitor-Redaktion zu dem Beitrag: Macht der Tech-Milliardäre: Angriff auf die Demokratie, der am 23.1. gesendet wurde. Hier einige Aussagen aus der Sendung:

„Bei der Amtseinführung von Donald Trump demonstrierten die Chefs der Tech-Giganten X, Meta, Google und TikTok ihre Nähe zum US-Präsidenten.

Musk und Zuckerberg sind zwei der Tech-Milliardäre, die sich früher eher liberal gaben. Zuckerberg sperrte einst sogar Trumps Facebook-Konto. Zu der Riege gehört auch Amazon-Chef Jeff Bezos, seit elf Jahren Eigentümer der „Washington Post“. Jetzt hat die Zeitung den Abdruck einer Karikatur verweigert, die Bezos und andere beim Kniefall vor Trump zeigt.“

Constanze Kurz vom Chaos Computer Club meinte:

„Elon Musk gehört zu Trumps Team. Mit seiner milliardenschweren Plattform X will er sich keinen Regeln mehr unterwerfen. Stattdessen die eigenen Regeln durchsetzen. Mit X macht er Wahlkampf für rechte und rechtsextreme Parteien – in Italien, Großbritannien und in Deutschland. Spätestens jetzt sollten alle Alarmglocken schrillen.“

Claus Leggewie, Politikwissenschaftler an der Justus-Liebig-Universität in Gießen, führt dazu aus: "Was wir beobachten, ist das Umkippen einer Demokratie in eine Plutokratie. Die Direktherrschaft der Superreichen, die nicht etwa nur Hintenrum ihren Einfluss geltend machen, sondern die tatsächlich direkt nach der Macht greifen."

So hat der US-amerikanische Präsident dem Tech-Milliardär Musk den Auftrag gegeben, die Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst der USA auf Effektivität zu durchforsten. Das Team von Milliardär Musk, mit der Bezeichnung DOGE (Department of Government Efficiency), überprüft eine US-Behörde nach der anderen und treibt massenhafte Entlassungen von Staatsbediensteten voran. Dieser Aufgabe kommt Musk, ohne Rücksicht auf Verluste und ohne sich an arbeitsrechtliche Vorgaben zu halten, nach. In einem besonders delikaten Fall wurden 300 Mitarbeiter der US-Atomsicherheitsbehörde gefeuert. Sie wachen über den Bestand von US-Atomraketen, sind für die Wartung und Sicherung zuständig und beaufsichtigen auch den Bau neuer Nuklearwaffen. Die NNSA ist auch damit befasst, Terroristen und „Schurkenstaaten“ daran zu hindern, sich waffenfähiges Plutonium zu beschaffen. Diese Kündigungen wurden inzwischen wieder zurückgenommen. Aber der Fall zeigt: der Willkür sind Tür und Tor geöffnet, ohne Rücksicht auf geltende Rechte und Gesetze. Auf einer Konferenz der US-Konservativen hat sich Musk für seine radikalen Stellenstreichungen feiern lassen. Unter dem Jubel der Anwesenden schwenkte er eine Kettensäge durch die Luft – ein Geschenk des argentinischen Präsidenten Javier Milei. „Das ist die Kettensäge für die Bürokratie“ zitieren die Nürnberger Nachrichten Musk, der ein enger Berater von Präsident Trump ist.

Ein weiterer Milliardär und Strippenzieher hinter Trump ist Peter Thiel. Er steht politisch weit rechts, hält sich aber im Gegensatz zu Musk eher im Hintergrund. Als ein Gründer von PayPal und Investor hat er sich ein Milliardenvermögen erworben und J.D.Vance im Wahlkampf massiv unterstützt. „Thiel bekennt sich zum Libertarismus – einer politischen Philosophie, die persönliche Freiheit über staatlichen Einfluss stellt –, während er gleichzeitig die Politik des freien Marktes ablehnt, da freier Wettbewerb Profite senke. Er lobt die Praxis, Behörden gegenüber zu lügen, um sich deren Einfluss zu entziehen, da aus seiner Sicht „Firmen über Staaten“ stünden. Unternehmen würden besser geführt als Regierungen, weil an ihrer Spitze ein alleiniger Entscheider mit annähernd diktatorischer Vollmacht steht, der keiner demokratischen Legitimation bedarf. Aus ähnlichen Gründen sieht er das Frauenwahlrecht kritisch. Thiel werden Kontakte zur neoreaktionären Bewegung (NRx) nachgesagt. https://de.wikipedia.org/wiki/Marktwirtschaft

Thiel schwebt eine Herrschaft von Eliten vor, eine oligarchische Diktatur, die nur auf den Eigennutz der Herrschenden ausgerichtet ist und sich vom Gemeinwohl verabschiedet. Freiheit und Demokratie hält Thiel für unvereinbar.

 

Die Wirtschaftsjournalistin Christine Kerdellant ist der Macht der Superreichen in ihrem Buch „Milliardäre, die mächtiger sind als Staaten“ nachgegangen. Sie kommt zu dem Ergebnis: „Eine Handvoll Männer entscheidet nun über unsere Zukunft. Bill Gates regiert das weltweite Gesundheitswesen. Elon Musk kappt den Internetzugang der ukrainischen Armee, wenn er sie am Handeln hindern will. Mark Zuckerberg schürt den Populismus und gefährdet eine Generation von Teenagern. Jeff Bezos will uns in riesigen Kapseln in Schwerelosigkeit leben lassen. Sergey Brin und Larry Page bereiten die Verschmelzung von Mensch und Maschine vor, um dem Tod ein Ende zu setzen. Und während sie unsere Kinder zu Social-Media-Süchtigen machen, erziehen sie ihre eigenen Sprösslinge fernab von Bildschirmen, um deren geistige Gesundheit zu erhalten.

Die Internet- und KI-Milliardäre haben riesige Vermögen angehäuft, die sie mithilfe von Steuerparadiesen optimiert haben, und sind mächtiger als Staatsoberhäupter geworden. Sie sind niemandem Rechenschaft schuldig und akzeptieren nicht, dass ihren Träumen Grenzen gesetzt werden. Sie entscheiden nun allein über die Zukunft der Welt.“

Die beschriebene Macht der Milliardäre geht einher mit einem Aufschwung der politischen Rechten in den USA und in Europa. Frank Deppe geht dem in einem Aufsatz mit dem Titel „Autoritärer Kapitalismus, Der Aufschwung der politischen Rechten in den Kapitalmetropolen des Westens“ nach. In der Septembernummer der „Zeitschrift für marxistische Erneuerung Z“ des letzten Jahres schreibt er: „In der gegenwärtigen Periode vollzieht sich mit dem Anwachsen der rechtspopulistischen antidemokratischen Kräfte (einschließlich profaschistischer Tendenzen) eine Verschiebung zum autoritären Kapitalismus, der – zu Lasten demokratischer Politikgestaltung – den Primat der äußeren und inneren Sicherheit anerkennt, Disziplin nach Innen durch die Konfrontation mit den äußeren Feinden (Russland und China), durch die ideologische Aufwertung des Nationalismus und der christlichen Religion, vor allem aber durch repressive Maßnahmen gegen Ausländer und Migranten erzwingen will. Das „kriegstüchtige“ Volk muss sich den durch den Staat definierten Zielen der Selbstverteidigung gegen die Feinde von außen und innen unterordnen. …

Damit ein durch Wohlstand und Frieden verwöhntes Volk „kriegstüchtig“ gemacht wird, erfahren die ideologischen Staatsapparate (Medien, Wissenschaftssystem) eine gewaltige Aufwertung.“

Genau das findet gerade statt. Über alle Kanäle wird uns von den Medien eingetrichtert, dass es keine Alternative zu Rüstung und Kriegstüchtigkeit gibt, denn dass Russland die NATO in einigen Jahren angreifen wird, scheint nach Meinung der „Expert*innen“ ausgemachte Sache zu sein. Woher die sogenannten „Sachverständigen“ diese Gewissheit nehmen, sei dahingestellt. Aber es zeigt Wirkung. Nach dem neuesten ZDF-Politbarometer befürworten rund drei Viertel der Deutschen deutlich erhöhte Finanzmittel für die Bundeswehr, auch wenn dies die Verschuldung massiv steigert. Es ist also davon auszugehen, dass uns in Deutschland zumindest verbal kriegerische Zeiten ins Haus stehen.

Hier sei noch auf die Kampagne „Friedensfähig statt Erstschlagfähig“ hingewiesen. Darin haben sich 40 Gruppen der Friedensbewegung zusammengeschlossen. Ihr vorrangiges Ziel ist es zu versuchen, die Stationierung von Mittelstreckenraketen 2026 zu verhindern.

Das Zitat von Frank Deppe bezieht sich aber nur auf einen Teilbereich der kapitalistischen Entwicklung. Eine wesentliche Folge der Verschmelzung staatlicher

Macht des ideellen Gesamtkapitalisten mit den Partikularinteressen einzelner Superreicher ist die Dauerkrise des bürgerlichen Systems und seiner Institutionen.

Deppe spricht deshalb von einer „strukturellen Überforderung des Nationalstaats, die in Zeiten der Polykrise allerdings darin besteht, dass er den Anforderungen des Krisenmanagements nicht gewachsen ist. Er will (bei hoher Staatsverschuldung) im Interesse der Wirtschaft Wachstum, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit fördern, den Umbau zu einem „grünen Kapitalismus“ vorantreiben, die kaputte Infrastruktur (Verkehr, Gesundheit, Bildung) reparieren, die sozialen Sicherungssysteme angesichts der demographischen Entwicklung (Belastung der Rentensysteme) schützen und die steigenden Kosten der Migration, der Armut und der Prekarität übernehmen und – bei Beibehaltung der „Schuldengrenze“ – die Ausgaben für Militär und Rüstung (einschließlich der militärischen Unterstützung der Ukraine und der israelischen Armee) drastisch steigern. … Der Nationalstaat ist als Krisenmanager im Inneren gefordert und ist dabei strukturell überfordert, was sich u.a. in der hohen Staatsverschuldung sowie in der Auseinandersetzung um die sog. „Schuldenbremse“ manifestiert.

Eine funktionierende Infrastruktur entscheidet nicht nur über die Lebensqualität der arbeitenden Bevölkerung, sondern auch über die Qualität des „Standorts“, d.h. über die Verwertungsbedingungen und über die Wettbewerbsfähigkeit des Kapitals“.

 

So vermag der Einfluss der reichsten Männer und der wenigen Frauen unter ihnen,

ihres Kapitals, ihrer Verbindungen und ihrer verqueren, zutiefst reaktionären Überzeugungen die Funktionsweise bisher gesicherter, „stabiler“ Staatssysteme zu gefährden und damit die Lebensentwürfe von Millionen und Abermillionen Menschen in die Tonne zu treten. Das ist der wahre Skandal dieses Systems, das es zu bekämpfen gilt.

 

 

Weniger Umverteilung. Warum der Sozialstaat schlechter vor Armut schützt – für 60 Prozent der Erwerbspersonen passiert zu wenig

Eine neue Studie der Hans-Böckler-Stiftung macht deutlich, dass „Deutschland bei der Bekämpfung von Einkommensungleichheit und Armut nachgelassen hat. Zwar wirken sowohl das Steuersystem als auch der Sozialstaat in Richtung sozialer Ausgleich, doch im Zeitverlauf weniger stark als in früheren Jahren. Dabei ist der Wunsch nach staatlicher Umverteilung in der Bevölkerung weit verbreitet: Rund 60 Prozent der Erwerbspersonen finden, dass der Staat zu wenig gegen soziale Ungleichheit tut, nur rund 15 Prozent sehen das dezidiert anders.“ Das ist das Ergebnis einer neuen Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung „Weniger Umverteilung. Warum der Sozialstaat schlechter vor Armut schützt“ vom Februar 2025.

Die 2010er Jahre hätten eigentlich gute Voraussetzungen geboten, weniger Ungleichheit zu erreichen und Armut zu verringern – doch trotz des jahrelangen Wirtschaftswachstums und relativ geringer Arbeitslosigkeit haben Einkommenskonzentration und Armut in dieser Zeit zugenommen, konstatieren die Studienautor*innen Dr. Dorothee Spannagel und Dr. Jan Brülle. Daher müsse dieser Zeitraum, in dem zunächst Union und FDP die Regierung stellten, dann die Union und die SPD als kleinere Koalitionspartnerin, insgesamt als „verlorenes Jahrzehnt“ im Kampf gegen Armut und Ungleichheit betrachtet werden. (…) Ein genauerer Blick auf die Daten zeige, so Spannagel und Brülle, dass „vor allem wohlfahrtsstaatliche Leistungen in ihrer armutsschützenden und ungleichheitsreduzierenden Wirkung nachgelassen haben“. So blieb beispielsweise die Entwicklung der Regelsätze des ALG II im Untersuchungszeitraum bis 2021 deutlich hinter der Lohnentwicklung zurück und verharrte vielfach auf einem Niveau, das unterhalb der Armutsschwelle liegt. Auch die staatliche Rente wirkt heute weniger stark gegen Ungleichheit und Armut als früher, was die Forschenden auf eine Kombination aus sinkendem Rentenniveau und fehlender Mindestsicherung im Alter zurückführen. Aufgrund von brüchigen Erwerbsbiografien, Unsicherheiten auf dem Arbeitsmarkt und Niedriglöhnen müssten mehr Menschen mit geringeren Rentenansprüchen auskommen. Für die zunehmende Anzahl der Menschen, die nicht auf ausreichende Leistungen der Sozialversicherungen zurückgreifen können, seien die bestehenden Grundsicherungsleistungen systematisch zu niedrig, um Armut zu verhindern, so das Fazit. (WSI-Pressemitteilung vom 11, Februar 2025)

Klassenfragen enden nicht nach 67 Lebensjahren

Die Sozialministerin Bärbel Bas orakelt von der Einbeziehung der Beamten in die Gesetzliche Rentenversicherung. Die Wirtschaftsministerin Katharina Reiche bringt einen weiteren Anstieg des Rentenalters (über 67 Jahre hinaus) ins Spiel. Laut Koalitionsvertrag soll eine Kommission bis Mitte der Legislaturperiode (das wäre etwa Anfang 2027) Vorschläge für eine „Rentenreform“ erarbeiten. Konkrete Entscheidungen sind zwar noch nicht gefallen, aber in der Zukunft ist mit Veränderungen, real wohl Verschlechterungen, bei den Renten zu rechnen. Zu diesem Thema hat uns folgende Zuschrift eines Lesers und gelegentlichen Autors erreicht.

 

 

RENTENPOLITIK: Klassenfragen enden nicht nach 67 Lebensjahren

 

Seit Bildung der Regierungskoalition von CDU/CSU und SPD werden Stimmen wieder lauter, Beitrage für die sozialen Sicherungssysteme „zukunftssicher“ festzuschreiben oder aber bislang gewährte Leistungsstandards abzusenken. Denn als zentral kassierte zwangssolidarische Lohnbestandteile bilden die Beitrage ein Drittel der jeweiligen Lohnhöhe und schmälern bei weiterem Zuwachs die Gewinnsituation der Betriebe. Das meint die Rede vom drohenden Verlust der „Wettbewerbsfähigkeit“. Dass diese beständige Klage über die „Abgabenlast" verunsicherte Haltungen bei der Masse der Lohn- und Gehaltsbezieher bewirkt, belegt eine erneute Umfrage von Infratest Dimap: „Aktuell sehen 49 Prozent Bedarf für eine grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung, während 36 Prozent 'gezielte Anpassungen' wünschen. Nur elf Prozent finden: Alles 'sollte so bleiben', wie es ist." Insgesamt haben 81% der Befragten kein Vertrauen in die Bundesregierung, notwendige Maßnahmen einzuleiten, damit die Rentenversicherung „zukunftssicher“ ist. (1)

Aus dieser Verunsicherung und Unkenntnis der Finanzierungsbasis resultieren dann vorschnelle Einfälle, irgendwie weitere Geldquellen für die Rentenversicherung aufzutun, um das ohnehin bereits abgesenkte Rentenniveau festzuhalten. Vielleicht hat die neue zuständige Arbeits- u. Sozialministerin Bas (SPD) nach Ratschlägen von kompetenter Seite dazugelernt, wenn sie nicht mehr öffentlich vorschlägt, dass auch Beamte, Selbständige,·ja selbst Parlamentsabgeordnete in die Rentenversicherung einzahlen sollen, um mit mehr Geldzuflüssen insbesondere die Rentenansprüche wachsender Ruheständlermassen von derzeit 21,4 Millionen in Deutschland erfüllen zu können.

Dass mit weiteren Berufsgruppen alsbald dann zusätzliche Ansprüche an die Rentenkasse eintreten würden oder ihrer Bedienung harren, bleibt völlig aus dem Blick und verweist auf die vordergründige Absicht, mit simplen Formeln von tieferliegenden Ursachen der Rentenproblematik abzulenken.

Denn es waren beschäftigungspolitische Eingriffe, die zu einer Verzerrung der Struktur des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters führten und dann Beitragsausfälle zeitigten, die nicht auf zu wenig Lohnarbeit leistenden Beitragszahlern beruhten, sondern auf verringerten Beitragszahlungen von in Teilzeit genötigten Beschäftigten; dies überwiegend Frauen. Hier mit einer egalitären zeitgemäßen Organisation der gesellschaftlichen Arbeit nach über hundert Jahren 8-Stunden-Tag anzusetzen, kommt etablierter bürgerlicher Politik naheliegend nicht in den Sinn, denn es würde die Arbeitskraft wieder allgemein teurer machen, nachdem Tarif- wie infolge Sozialpolitik nach 1980 darauf zielten, Lohnzahlungen eng am Produktivitätsfortschritt zu halten, aber doch wenigstens in weniger qualifizierten Berufsfeldern auch mit minimierten Sozialbeiträgen zu verringern. Das machte dann nach 2010 einen gesetzlichen Mindestlohn unausweichlich, denn in vielen Dienstleistungsbereichen waren tarifliche Verbesserungen aufgrund gewerkschaftlicher Schwäche nicht mehr durchsetzbar.

Wozu brauchen Leute, die in der Regel nicht mehr besitzen als ihre Arbeitskraft, einen Arbeitskontrakt? Gegen Lohn oder Gehalt vermieten sie quasi ihre Arbeitsfähigkeit zu bestimmten Bedingungen gegen Entgelte eines "Beschäftigers", geben vorher "Arbeit", genauer Arbeitsleistung, her. Je nach abgeforderter Arbeitsverausgabung dient das monatliche Entgelt der Reproduktion der Arbeitskraft, wozu nach gesellschaftlichem Standard passable Unterkunft, Ernährung, Bekleidung, Mobilitätskosten und nicht zuletzt der Aufwand für Kinderaufzucht gehören. Allein schon bei gesundheitlicher Versorgung, die bei Klinikaufenthalten sehr teuer werden kann, springt bei uns eine solidarisch erbrachte Kostenübernahme seitens der gesetzlichen Krankenkasse ein, deren Summe einen „beitragsfreien" Lohnabhängigen umgehend finanziell ruinieren konnte. Nicht aber den Solidarfonds einer Krankenkasse mit Millionen Mitgliedern.

Mit zunehmendem Alter, spätestens ab dem siebten Lebensjahrzehnt ist dann auch generell ein Zeitpunkt erreicht, wo vorherige Leistungsfähigkeit schwindet oder aussetzt. Doch womit oder wovon leben, wenn altersbedingt kein Arbeitskontrakt in Frage kommt? Als weitere sozialstaatliche Errungenschaft ist eine an der Lohnentwicklung orientierte Altersrente in Deutschland inzwischen von nur noch 48% des Durchschnittsverdienstes nach 45 Beitragsjahren zugesagt. Sie soll eine Lebensführung oberhalb der Armutsgrenze gewährleisten oder sogar einen erreichten Lebensstandard sichern. Nachdem jeder Lohn- oder Gehaltsempfänger bis zum letzten Monat vor dem Übergang in den Rentnerstatus - in der Gesamtheit von Lohnempfängern als Klasse, eben nicht von Generationen - seinen Rentenbeitrag abbuchen ließ, stehen dann die verbleibenden und nachrückenden Lohnabhängigen für seinen Rentenanspruch ein, der sich nach Dauer und Hohe vormaliger Einzahlungen bemisst. Im Jahre 2023 umfassten die Ausgaben der Deutschen Rentenversicherung (DRV) 374 Milliarden Euro; pro Monat dann etwa 31,2 Milliarden Euro, die aufzubringen sind. 288 Mrd. Euro waren von Beitragen gedeckt, sodass ein Bundeszuschuss von 86 Mrd. Euro aus allgemeinen Steuermitteln für den nicht einbringbaren Rest aufkam. (2) Dies nützt nicht nur den Rentnern, sondern vermeidet höhere Beitrage dann eben höherer Bruttolöhne, um die Bilanzen der privaten wie öffentlichen Betriebe zu „entlasten“, anders gesagt Schonung der Gewinn- oder Ertragssituation der Betriebe.

Wiederholte Äußerungen aus "sozial"-demokratischer Richtung, weitere Berufsgruppen in die GRV einzubeziehen, verkennen die Tatsache diverser Einkommensarten oder -bezüge mit Besonderheiten wie dann bei den Beamten: Als Amtsperson unterstellt und erwartet von ihnen der Staat ein beiderseitiges Treueverhältnis, somit Verlässlichkeit für das Privileg höheren Gehalts sowie der Alterspension, wovon jedoch höhere Beitrage f'ür eine private Krankenversicherung abgehen. Jeder Verfassungsrichter dürfte Eingriffe zur Statusminderung der Beamten verwerfen. Darauf verlässt sich letztlich dann auch der Beamtenbund. Denn wem nützt die Zunahme von Korruption im Beamtenapparat, wenn Treuebruch nicht wie bisher mit Entzug sämtlicher erworbenen Versorgungsansprüche geahndet würde?

Dass unter Selbstständigen wie Kioskbetreibern, Taxifahrern oder prekär entlohnten "freien" Journalisten keine Großverdiener zu finden sind, sollte jeder wissen. Neben der Möglichkeit punktueller freiwilliger Beitrage in die GRV könnte ein weiterer Versicherungszweig vor der Grundsicherung im Alter (Sozialhilfe unter Ausschluss von Zuverdienst) bewahren. Jedoch sind stetige Jahresbeiträge von mehr als 1000 Euro von diesen Berufsgruppen kaum zu erwarten, während "besserverdienende“ Gruppen wie Ärzte, Anwälte o.a. auf ihre eigenen Versorgungswerke zählen können.

Da sie alle, wenn nicht angestellt, nicht fremdbestimmt lohnabhängig beschäftigt sind, hat ihr Einkommen keinen Bezug zur Finanzierungsbasis der auf Lohn basierten gesetzlichen Solidarsysteme.

Jegliche aktuelle Debatte umgeht daher die einzige Verbesserung der GRV- Beitragssituation durch Ablenken von der Notwendigkeit höherer Lohnzahlung: Sei es durch Anhebung der Beitrage prozentual oder Ausweitung der Vollzeitbeschäftigung in gesellschaftlicher Breite: Der außer Acht geratene Kampf um kurze Vollzeit für alle durch den 6-Std.-Tag·in einer 30 Std.-Woche hat mit einzugehen in den Kampf' um die Zukunft des Sozialstaates.

Keine Kampfaufgabe für den DGB im Fahrwasser der SPD. Die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi belässt es beim Appell an die Regierung zu "Steuererhöhungen, um etwa die Rentenkasse zu stützen". Der sogenannte Druck der Straße scheint hier nichts als tabuisiert. Mag so etwas geschehen in Nachbarländern wie Frankreich oder Belgien. Deutsche Untertanen, selbst noch mit unter sechs Millionen Mitgliedern gewerkschaftlich organisiert, haben immer zu spät aufzuwachen.

Versuche, Anteile der monatlichen Netto-Entgelte zur privaten Ergänzung der Altersvorsorge in Verwaltung der Finanzkonzerne einzukassieren, haben von dort aus nicht nachgelassen. Welch sicheres profitables Geschäftsfeld, dem die GRV noch den Zugriff auf Nettolohnbestandteile entzieht, wo das Ausbremsen der Bruttolöhne längst schon gelingt.

Allein die Nachfrage nach Risikokapital macht bei "privater" Vorsorge große Hoffnungen."Eine Schlüsselrolle spielt dabei das Rentensystem. Der Deutsche Bank Chef Sewing rechnet vor: 'Wenn die deutschen Sparer zum Beispiel analog zum Schwedischen Modell zwei Prozent ihres Bruttolohns in eine kapitalgedeckte Altersvorsorge einzahlen würden, wären allein das jährlich 40 Milliarden Euro an Investitionsmitteln'“. (4)·Norbert Rollinger, Vorstand bei der genossenschaftlichen R+V-Versicherung, sieht das weitaus skeptischer. „Viele Experten erachten Investitionen in ETFs und Aktien für sinnvoller – wegen der höheren Renditechancen. Ich halte nichts davon, dass die Bundesregierung auch Produkte ohne Garantien in der Ansparphase fördern will, um die Chancen an den Kapitalmärkten besser zu nutzen. Es geht hier nicht um Vermögensmehrung für Besserverdienende, sondern um Altersversorgung für das Gros der Bevölkerung. Deshalb braucht es einen gewissen Schutz für die eingezahlten Betrage.“ ... „Die Frühstartrente soll in ein kapitalgedecktes Altersvorsorgedepot fließen. Da werden Versicherungen eher keine Rolle spielen. Die Regierung lässt sich zu stark von der guten Entwicklung an den Börsen blenden. Bei der Altersvorsorge ist es aber nicht sinnvoll, sich mit ETF-Sparplänen komplett den Risiken des Kapitalmarkts auszusetzen. Das gilt besonders in Zeiten, in denen selbst Länder wie die USA überlegen, ob sie ihre Staatsanleihen künftig noch bedienen können oder wollen. Die Risiken an den Märkten sind so groß wie lange nicht."·(5)

Die in diesen Zitaten genannten wenigen Fachbegriffe verweisen für Außenstehende auf einen Wirrwarr von Lockangeboten und intransparenten Vertragsfallen, mit denen bei ergänzender individueller Altersvorsorge zu rechnen ist. Dauerhaftes Einstreichen von Provisionen und Verwaltungsgebühren für das Beibringen von Dividendenanteilen des Kapitaleinsatzes ist den Finanzagenten dabei sicher. Um gewerkschaftliche Positionen gegen das Schlechtreden der GRV zu stärken, wäre es hilfreich, wenn gewerkschaftliche Aktivisten Vortrags- wie Diskussionsabende initiieren würden, bei denen auch Sprecher der regionalen Rentenberatungsstellen auftreten können. Mehr Einsicht in die Rentenfinanzierung ist die Voraussetzung, um in öffentlicher Aktion entschieden für sichere gesetzliche Renten einzutreten.

Leichtfertige wie kurzsichtige Sprüche wie „alle sollen da einzahlen" gehen am Verständnis der Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme vorbei.

 

H.Z., Go. 14.8.25

 

1) Die Welt, 8.8.2025

2) Bei gleichem Normalarbeitstag von 6 Stunden und 50 Arbeitswochen pro Jahr bei 40 Millionen Beschäftigten reicht eine 30 Stundenwoche hin, 60 Milliarden Arbeitsstunden zu erbringen. Ein Durchschnittsverdienst von 4000 Euro bei 800 Euro Rentenbeitrag führt zu 32 Milliarden Euro Einnahmen der Rentenversicherung monatlich.

3) Handelsblatt 4.8.2025

4) Handelsblatt 23./24.5.2025

5) Handelsblatt 10.6.2025

Verzweifeltes Vermächtnis

Verzweifeltes Vermächtnis

 

„Où est l'espoir?“ Mit seinem Fragezeichen war der Titel der im vergangenen Herbst erschienenen Originalausgabe treffender. Zieglers deutscher Verlag kündigte das jüngste, vielleicht letzte Buches des nun 91-Jährigen als „kämpferisches Vermächtnis“ an. Doch es klingt verzweifelt.

Emanzipation, Gleichheit,

Gerechtigkeit hängen von uns ab.

Ja, „diese Verantwortung haben wir“.

Zuerst entfernte ich den widerwärtigen Kleber: Für mich ist Jean Ziegler kein ‚SPIEGEL-Bestseller-Autor’, sondern ein radikal engagierter Genosse, der schreibend abzuwenden versucht, was er kommen sieht. Auf dem Buchumschlag wird er gross, rot, undifferenziert als „unermüdlicher Globalisierungskritiker“ präsentiert. Was eigentlich falsch ist. Er fordert weltweite Solidarität. Allerdings will er einen grundlegenden Wandel; „der Kapitalismus ist nicht reformierbar“, als System nicht zu zivilisieren. Als sich auch offen zum Katholizismus bekennender Sozialist glaubt er, wohl durchaus religiös, ein Sturz unserer „kannibalischen Weltordnung“ sei möglich, stehe bevor. Ob sein „Trotz alledem!“ mit dazu beiträgt? Vielleicht. Naiv ist er ja nicht.

Radikal anklagendes Inventar

Er liefere im Buch „das Inventar der wichtigsten Katastrophen“ sowie „der Strategien, die es zu erschaffen gilt“, um diese zu überwinden, steht im ersten Absatz. Letzteres bleibt skizzenhaft, die Beschreibung der Lage jedoch ist sprachlich wie faktisch erschütternd. Nach neuesten Daten der Vereinten Nationen „vernichten“ von Not und Elend ausgelöste Konflikte pro Jahr fast so viele Menschenleben wie der Zweite Weltkrieg insgesamt und eine neue kriegerische Phase hat begonnen. Ziegler spricht nicht nur das Drama in der Ukraine an, wo er sich „vollkommen ohnmächtig“ fühle, zum Zuschauer des neuen Angriffs des „Massenmörders Putin“ degradiert, der zuvor schon Tschetschenien zerstörte. Breiter und mit Blick auf die historischen Wurzeln und die tragisch verpassten Chancen wird das Geschehen in Gaza beleuchtet. Syrien, Afghanistan, der Sudan ... Und immer profitiert die Waffenindustrie von Vernichtung und Sterben, die Rüstungsspirale rotiert noch rascher. Auch in der Schweiz verdienen viele mit. Während dem Staat Israel mit gutem Gewissen die tödlichsten der vorhandenen Waffen geliefert werden, wird gebeten, die zivilen Opferzahlen „möglichst niedrig“ zu halten.

Dieses aktuelle Geschehen durchzieht die ersten Kapitel, überschriebenen mit „Die Kannibalische Weltordnung“, „Der Hunger“, „Der Untergang der Vereinten Nationen“, „Die Beseitigung des Asylrechts“. In der zweiten Hälfte des schmalen und trotzdem nicht leicht zu würdigenden Bändchens wird mit vielen Abschweifungen ein teils hochphilosophischer Bogen gezogen: von der tiefen „Entfremdung“, die im Kampf gegen uns aufgezwungene Unmenschlichkeit überwunden werden müsste, zur erlösenden „Hoffnung“. Ziegler ruft zu einer „massiven und entschlossenen Mobilisierung unserer Bürger und der öffentlichen Meinung“ auf. Besonders im Blick hat er Bauern und Bäuerinnen, aber auch Gelbwesten in Frankreich bezieht er noch irgendwie mit ein. Durch einen Schulterschluss könnte zum Beispiel die Wiederherstellung des Asylrechts und eine künftig allgemeine Anwendung „des temporären Schutzes“ erreicht werden, den die EU derzeit Flüchtenden aus der Ukraine gewährt. Das pure Gegenteil der davor beschriebenen brutalen Frontex-Maschinerie.

Menschenrechte als Programm

„Überall auf der Welt kann sich der Staat in einen Aggressor verwandeln“, mahnt Ziegler. Aber im Kontrast zum Schwinden menschlicher Gerechtigkeit gebe es eine machtvolle historische Kraft, „ein eschatologisches Bewusstsein“ von dem, was gerecht wäre - die Utopie. „Ihr Fortschritt ist unaufhaltsam.“ Das habe sich etwa bei der Abschaffung der Sklaverei gezeigt. Und mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wurde diese Utopie zum globalen politischen Programm, das jetzt zu verteidigen und durchzusetzen ist. Wo die Politik versagt, habe die Zivilgesellschaft zu handeln. „Wenn sich die Linke archaisch darauf versteift, die Macht im Staat zu erobern, ist sie auf dem Holzweg.“ Sie müsste die „Oligarchie des Finanzkapitals“ frontal angreifen, „je nach Erfordernis“, mit den „besten Waffen“ von Intelligenz und Wissen ausgestattet. Zu diesem Aufstand seien alle aufgerufen. Er gebe seinem und jedem menschlichen Leben einen Sinn. Emanzipation, Gleichheit, Gerechtigkeit hängen von uns ab. Wenn es nicht gelingt, den herrschenden „Raubkapitalismus“ zu besiegen, werden wir dazu verurteilt, in einer Welt zu leben, die dann nicht mehr für eine, sondern für mehrere Milliarden anderer Menschen völlig unerträglich sein wird. Ja, „diese Verantwortung haben wir.“

In der Klimabewegung sei vielen klar geworden, dass tiefe ursächliche Zusammenhänge einen Systemwandel erfordern, ein Überlebenskampf in Gang ist. Zuvor führte Ziegler die zu Beginn der 2000er-Jahre imposante Internationale gegen neoliberale Globalisierung als ein Muster für den Charakter der „planetarischen Zivilgesellschaft“ als neuer Kraft an. Wo blieb sie? Vom jüngsten Aufbruch mit mehr ökologischen Akzentsetzungen wurde auch er überrascht. „Aussergewöhnlich“, „etwas Geheimnisvolles“ ... Ein mutig entschlossenes Mädchen aus Schweden brachte mit medialer Unterstützung die alten Ermatteten weltweit mit aufgerüttelten Neuankömmlingen zusammen, und der Grossvater bekam von seinem Enkel den Slogan mit, der beim Genfer Sitz einer speziell skrupellosen Bank skandiert wurde: „Ertränkt die Bankiers, nicht das Packeis!“ Durch die Übersetzung fiel zwar der französische Wortwitz weg, dafür trat die Härte hervor. Wie bei den Passagen, in denen Empörung und berechtigte Wut in stereotyp wiederholte pathetische Phrasen münden, wurde mir unwohl. Ist das ein Fluchtweg vor zu schwierigen Fragen?

Erfahrung, Begegnungen, Auftrag

Wertvoll ist, was der langjährige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung an Positionen des globalen Südens in sein Plädoyer für eine neue Weltordnung einbringt. Marx- und allerlei andere Zitate mögen als Leseempfehlungen dienen. Und wer erstmals etwas von Zieglers Begegnungen mit Prominenten und revolutionären Grössen erfährt, wird auch von seinen immer wieder präsentierten Episoden beeindruckt sein. Sartre und de Beauvoir, die in Paris aus dem biederen Hans den intellektuellen Jean machten. Che, der ihm einen Guerillakampf nicht zutraute und dafür Genf als Einsatzort im „Gehirn des Monsters“ zuwies ... Unter die Haut geht die vergleichsweise frische Schilderung einer offiziellen Mission, die ihn 2005 im von einer Mordwelle erschütterten Guatemala in ein Dorf führte, wo Indigene um ihr von Konzernen beanspruchtes Land kämpften, um ihre Lebensbasis. Misstrauen schlug ihm entgegen; diese Menschen hatten Angst. „Etwas gehemmt verteilte ich meine UN-Visitenkarte. Die Frauen pressten sie wie einen Talisman an ihr Herz.“ Doch er war sich bewusst, nicht die geringste Möglichkeit zu haben, „ihnen den Schutz zu bieten, den sie brauchten.“ Er beantragte Massnahmen; die Niederlagen in den zuständigen Gremien waren programmiert. Die umfassende Verpflichtung, denen zu helfen, die leiden und kämpfen, blieb. In ihrem Handeln ist Hoffnung!

 Hans Steiger, Schweiz



Jean Ziegler: Trotz alledem! Warum ich die Hoffnung auf eine bessere Welt nicht aufgebe. 
Aus dem Französischen von Hainer Kober. Bertelsmann, 
München 2025, 205 Seiten, 22 Euro

 

"Feuerdörfer“

 

Eigentlich ist das hier besprochene und empfohlene Buch “Feuerdörfer – Wehrmachtsverbrechen in Belarus – Zeitzeugen berichten“ der Autor*innen Ales Adamowitsch, Janka Bryl und Uladasimir Kalesnik ein altes. Schon 1975 war es in Belarus erschienen, aber da konnten es die meisten aufgrund fehlender Sprachkenntnisse nicht lesen. Danach wurde es in der DDR verlegt, aber aus politischen Gründen (und weil wohl noch viele Täter lebten?) durften wir es nicht lesen. Jetzt ist es im Aufbau-Verlag, Berlin herausgekommen, hat jüngst für die Übersetzung den deutschen Buchpreis bekommen. Jetzt können und dürfen wir die 357 Seiten lesen. Und wir sollten sie lesen!

Nicht nur, weil sich der Untergang der nationalsozialistischen, rassistischen, mörderischen Diktatur zum 80sten Mal jährt und die Nazis „nicht vom Himmel gefallen“ sind. Viele haben bei ihren Verbrechen mitgeholfen und sind oft später nicht zur Verantwortung gezogen worden. Von diesen brutalen Verbrechen, fußend auf einer rassistischen Vernichtungsideologie, berichten für den Raum Belarus Zeitzeugen in diesem Buch. Das massenhafte Morden und Verbrennen der einheimischen Bevölkerung, die systematische Entvölkerung des „Lebensraums im Osten“ wurde mit dem „Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion“ begonnen. Bereits Anfang 1941 forderte Heinrich Himmler, die slawische Bevölkerung um 30 Millionen zu vermindern. Für den Vernichtungskrieg wurden Recht und Gesetz außer Kraft gesetzt. „Für Handlungen, die Angehörige der Wehrmacht und des Gefolges gegen feindliche Zivilpersonen begehen, besteht kein Verfolgungszwang, auch dann nicht, wenn die Tat zugleich ein militärisches Verbrechen oder Vergehen ist.“, heißt es in Adolf Hitlers Kriegsgerichtsbarkeitserlass vom 13.05.1941.

Für das Buch reisten Autorin und Autoren durch versengte Landschaften in der belarussischen Provinz, zeichneten in 147 Dörfern Gespräche mit Überlebenden der verbrannten Dörfer auf, führten und transkribierten über 300 Gespräche.

Zwischen 1941 und 1944 fielen in Belarus über zwei Millionen Menschen den deutschen Mordkommandos zum Opfer, mehr als 9.100 Dörfer wurden zerstört.

„In jedem Hof hatten sie drei Mann abgestellt, die alle gleichzeitig die Menschen umbringen sollten. (…) Und dann kommen sie ins Haus und bringen die Kinder um, die alten Weiblein...Mir haben sie die Mutter getötet. (...) Die Patronen lagen da und alles… Alles lag da. Ich kam später und konnte nur noch meine Leichen begraben. (…) Nur die nicht verbrannt waren. (…) 180 Menschen haben sie umgebracht.“ (Auszüge aus dem Interview mit Iwan Wikenzjewitsch aus Hardoka). Dieses Interview verdeutlicht Dreierlei: Erstens: Das Buch ist nichts für schwache Nerven, vor allem nicht die Interviews! Zweitens:Die Augenzeugen reden einfach, sind „einfache“ Menschen, sind keine Intellektuellen. Drittens: Faschisten und Rassisten reden nicht einfach so nur daher, sondern setzen das Gesagte auch um! Das sollte auch nicht vergessen werden!

Das im Buch aufgelistete Grauen wurde nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern viele deutsche Täter und ihre Helfer übten bewusst und überzeugt die schlimmsten Grausamkeiten und Morde aus. Auch dies sollte heute noch zu denken geben!

Das Buch möge, wie im Nachwort geschrieben, als Pionierwerk des dokumentarischen, vielstimmigen Erzählens seinen festen Platz in der deutschen und internationalen Erinnerungskultur bekommen.

 

Frank Rehberg

 

Feuerdörfer. Wehrmachtsverbrechen in Belarus – Zeitzeugen berichten

von Ales Adamowitsch, Janka Bryl und Uladsimir Kalesnik

Aufbau Verlag 2024

 

In eigener Sache

Die Bundesregierung offenbart nach Monaten luftiger Absichtserklärungen und Durchhalteparolen ihre Vorstellungen von einem Haushalt 2026. Der Bundesrechnungshof rechnet nach und kommt zu dem Ergebnis, dass der Bund nächstes Jahr über 170 Milliarden Euro neue Schulden aufnehmen wird, etwa hälftig für den Kernhaushalt und die „Sondervermögen“. Damit wird künftig der Schuldendienst, ähnlich wie in den USA, zum größten Haushaltsposten werden. Seit Wochen ist nur mehr von Tricksereien die Rede, um einen zustimmungsfähigen Haushalt auszuweisen.

Für die SPD hat sich die Nibelungentreue zur CDU nicht ausgezahlt, die Kommunalwahlen in NRW bescheinigen ihr vor allem in den Großstädten des Ruhrgebiets ihren Bedeutungsverlust. Es gewinnt die AfD, sie verdreifacht ihr Ergebnis und legt nach und nach das Image der Ostpartei ab. Jetzt aber müsse man die Probleme schonungslos angehen, so schallt es aus den Parteizentralen. Als hätte man das nicht schon in allen Tonlagen gehört. Die nächsten Niederlagen der früheren Massen- und Volksparteien können kommen.

Selten treffen Entscheidungen in der kapitalistischen Welt auf unsere ungeteilte Zustimmung, eine Ausnahme bildet ein kürzlich veröffentlichtes Dekret des US-Präsidenten. Das Verteidigungsministerium heißt jetzt Kriegsministerium. Das Kindchen darf sich jetzt offen zu seiner Mutter bekennen. Wir hoffen, dass die politische Ehrlichkeit bei den europäischen Nato-Partnern Einzug hält. Auch dem deutschen Fachminister Pistorius würde die neue Titulierung schließlich gut zu Gesicht stehen.

Die Betrachtung der Zollpolitik des US-Präsidenten setzt die Analyse des Rechtspopulismus in den USA fort. Dabei wird schnell klar, dass der Ansatz des US-Präsidenten weit über die „klassischen“ Vorstellungen vom wirtschaftlichen Nutzen dieser Abgabe hinausgeht. Diese neuartigen Erfahrungen machen zurzeit auch die Handelspartner.

Den Kommentar zum Armuts- und Reichtumsbericht von Oxfam für dieses Jahr konnten wir leider nicht in den letzten Nummern der Arbeiterstimme unterbringen. Dabei thematisiert der Artikel, über die bloßen Vermögenszahlen hinaus, ein zunehmend wichtig gewordenes, aktuelles Problem der Gegenwart: die massiv gestiegene Macht und der weiter wachsende Einfluss von Milliardären und ihre unmittelbaren Eingriffe in die Gesellschaften, die von ihren Entscheidungen abhängen. Ob sich die Buddies Elon und Donald aktuell gerade grün sind oder nicht.

 

Die Rückseite der Milliardenvermögen, die (Eigen-)Finanzierung der Renten, greift ein Artikel auf, der uns von einem langjährig verbundenen Leser zugesandt wurde. Dabei gehen die Erfordernisse der Gewinnmaximierung vor. Die Sicherstellung einer Rente, die das Leben ohne Lohnarbeit in Würde ermöglicht, wird dieser Prämisse durch die zahlreichen „Reformen“ mit den bekannten Folgen untergeordnet.

In Großbritannien machen die großen, rechtsradikal organisierten Demonstrationen gegen die MigrantInnen Schlagzeilen, der berüchtigte Nigel Farage feiert mit der Rechtspartei Reform UK neue Erfolge. Dabei war doch die Regierung Starmer mit einigen Vorschusslorbeeren gestartet, um die Johnson-Jahre hinter sich zu lassen. Unser englischer Genosse fasst diese weitere Übergangszeit in einem Beitrag zusammen.

Die Rezensionen nehmen diesmal einen ihnen gebührenden Raum ein.
Ein Thema hat mit der Hinwendung der Bundeswehr nach Osten für kaum mehr erwartbare Aufmerksamkeit in linken Milieus gesorgt: die Wehrmachtsverbrechen in Belarus. Eine schon seit Jahrzehnten vorliegende Zeitzeugenbefragung aus Belarus wurde unter dem Titel „Feuerdörfer“ in der Bundesrepublik erstmals verlegt, ein Genosse hat die Ausgabe für diese Nummer gewürdigt.

Etwas kurios mutet eine Geschichte an, die die Gruppe seit vielen Jahren begleitet hat. Unser Genosse Hans Steiger hatte einen Namenszwilling in der Schweiz, der den Kontakt aufgenommen hat. Auch er steht politisch links und ist für unsere Ausrichtung aufgeschlossen. Vor allem fanden sich beide Steiger einander so verbunden, dass der Kontakt niemals abriss. Der Schweizer Hans Steiger stellt seinem Namensvetter zu Ehren der Arbeiterstimme eine Rezension zur Verfügung, die Jean Zieglers neues Buch „Trotz alledem! Warum ich die Hoffnung auf eine bessere Welt nicht aufgebe.“ vorstellt. Jean Ziegler wiederum hat die Arbeit unserer Gruppe gekannt, unsere Veröffentlichungen geschätzt und uns Mut zugesprochen. Deshalb ist es uns ein doppeltes Anliegen, mit diesem Text beide Genossen zu Wort kommen zu lassen.

Mit einer längeren Darstellung greift unser Autor die Analyse von Heiner Karuscheit zum Weg des Deutschen Kaiserreichs in den Ersten Weltkrieg auf. Insbesondere die Frage, wie diese Gesellschaftsordnung zu charakterisieren ist. Bürgerlich oder nicht, welche Klasse herrschte in Wilhelms Reich? Dass in dieser Betrachtung bisherige Erklärungsmuster des linken Politikverständnisses von Lenin bis zur SED/DKP verworfen werden, blieb in der Redaktion nicht unwidersprochen. Wir veröffentlichen den Text, weil wir erstens neue Ansätze nicht ausblenden wollen und zweitens unsere Leserschaft für kompetent genug halten, sich eine eigene Meinung zu bilden. Ein Leserbrief Karuscheits zur Strategie linksradikaler Politik während der Novemberrevolution in Deutschland schließt den Themenkreis ab.

Ein technisches Versehen hat in der letzten Printausgabe den Beitrag „Israel im Krieg“ getroffen und ihm seinen Schlussteil genommen. Wir möchten uns bei unserem Autor Georg Auernheimer und den LeserInnen dafür entschuldigen.

Allerdings war unsere Online-Ausgabe nicht betroffen, der Gesamttext stand immer zur Verfügung und kann nach wie vor abgerufen werden

(https://www.arbeiterstimme.org/2025/134-nr-228/190-israel-endlos-im-krieg-von-der-nationalen-heimstaette-zu-eretz-israel).

Gleichzeitig möchten wir darauf hinweisen, dass Georg Auernheimers neues Buch „Zweierlei Antisemitismus. Staatsräson vor universellen Menschenrechten?“ im August 2025 erschienen ist und unter anderem die Rolle des Antisemitismus in der Politik der Bundesrepublik untersucht. Wir halten diesen Aspekt im Anschluss an die Diskussion mit dem Autor im Mai dieses Jahres für außerordentlich wichtig. Israelkritische Linke jeglicher politischer Ausrichtungen sind von den deutschen Repressionsmaßnahmen, Verleumdungen und Verurteilungen betroffen. Auernheimers Darlegung werden wir in der nächsten Nummer der Arbeiterstimme vorstellen und bewerten.

 

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Wir weisen nochmal auf unsere diesjährige Jahreskonferenz am 4. und 5. Oktober in Nürnberg hin. Anmeldungen erfolgen über die Redaktionsadresse.

Die Linke Literaturmesse in Nürnberg findet heuer vom 31. Oktober bis 2. November statt.

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